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US-HANDEL Reiter Gläubiger

Erstmals seit 1893 wird die US-Handelsbilanz 1971 voraussichtlich mit einem Defizit abschließen. Die Industrie-Lobby fordert daher eine Rückkehr zum Protektionismus.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Es war kein wirtschaftliches Pearl Harbour«, hatte der amerikanische Nobelpreis-ökonom Paul A. Samuelson seine Landsleute nach der schweren Dollarkrise im Mai noch beruhigt. Doch nun, klagte das US-Magazin »Newsweek«, »tritt fast jede Woche ein neuer Jeremia auf, um das amerikanische Volk vor dem nationalen Verfall zu warnen

In der vorletzten Woche erschütterten gleich zwei Unglückspropheten das ökonomische Selbstbewußtsein der reichsten Industrie- und Handelsnation der Welt:

* US-Handelsminister Maurice H. Stans verkündete vor einem Unterausschuß des Kongresses, die amerikanische Handelsbilanz werde in diesem Jahr möglicherweise mit einem Defizit abschließen -- dem ersten seit 1893;

* Washingtons Schatzamt berichtete. die amerikanischen Goldreserven seien im Juni um 61 Millionen Dollar auf 9,96 Milliarden Dollar gesunken -- den niedrigsten Stand seit 1935.

Da ausländische Zentralbanken über 20 Milliarden Dollar in kurzfristigen Dollar-Forderungen halten und im Eurodollar-Markt mit etwa 50 Milliarden Dollar genügend Geld zirkuliert. um das amerikanische Gold-Fort Knox gleich mehrere Male aufzukaufen, »ist unsere Nation zahlungsunfähig« -- wie Gaylord Freeman, Chef der First National Bank of Chicago, eingesteht.

Stärker noch als die Insolvenz ihres Landes schockt jedoch die schwindende internationale Konkurrenzfähigkeit ihrer Industrie Amerikas Wirtschaftsführer und Politiker. Denn der Saldo der Handelsbilanz, Maßstab der Wettbewerbskraft eines Landes am Weltmarkt, war bisher stets wichtigster Aktivposten in der chronisch defizitären Gesamt-Zahlungsbilanz gewesen. Der Exportüberschuß hatte das Wachstum des Auslandsschuldenberges gebremst. den die Vereinigten Staaten in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem durch Militär- und Entwicklungshilfe, Stationierungskosten der US-Streitkräfte im Ausland, Touristenausgaben und private Auslandsinvestitionen aufgetürmt hatten.

So hatte die amerikanische Wirtschaft Anfang der sechziger Jahre Ausfuhrüberschüsse in Höhe von vier bis sieben Milliarden Dollar pro Jahr erzielt. Und noch im vergangenen Jahr übertraf der Warenexport den Warenimport um 2,7 Milliarden Dollar.

Seit April aber ist nun auch Amerikas Außenhandel defizitär. Im zweiten Quartal dieses Jahres führten die USA für 803 Millionen Dollar mehr Waren ein, als sie im Ausland verkaufen konnten. Allein im Juni klaffte ein Loch von 362 Millionen Dollar in der US-Handelsbilanz.

Denn die anhaltende Inflation, die in den USA im Gegensatz zu Ländern wie Japan, Großbritannien, Italien und Frankreich fast voll auf das Preisniveau der Exportgüter durchschlug, hat die Stellung der Vereinigten Staaten am Weltmarkt geschwächt. »Weil unsere Preise zu hoch sind«, stellte US-Banker Freeman fest, »geben die Ausländer nicht genug von ihren Dollar aus, um unsere Waren zu kaufen. Das ist der Kern des Problems.«

Um ihren militärischen und politischen Verpflichtungen im Ausland nachkommen zu können, müssen die Vereinigten Staaten ihre Ausfuhren erheblich steigern. »Wir brauchen Jahr für Jahr einen Handelsbilanzüberschuß von fünf bis sieben Milliarden Dollar«, schätzte Henry Kearns, Präsident der staatlichen Export-Import Bank, »ein gelegentlicher Überschuß genügt uns nicht.«

Doch da die Sanierung des Außenhandels durch einen rigorosen Kampf gegen die Inflation für die amerikanische Wirtschaft sehr schmerzhaft wäre, führen Politiker, Industrielle und Gewerkschaftsführer die Schwäche am Weltmarkt vor allem auf protektionistische Praktiken der Handelspartner zurück.

»Wir spielen mit völlig verschiedenen Regeln«, klagte Donald F. McCullough, Chef des Textilunternehmens Collins & Aikman Corp., »während wir mit ritterlichen Regeln kämpfen, wendet unsere ausländische Konkurrenz die Straßenkampf-Taktik an.« Und Handelsminister Stans erklärte: »Wir halten uns selbst zum Narren, wenn wir glauben, daß unsere Wettbewerbsfähigkeit allein durch die heimische Inflation verlorenging.« Denn: »Einige Nationen halten die Regeln eines fairen internationalen Handels nicht ein.«

Neben der protektionistischen Agrarpolitik des Gemeinsamen Marktes erregten vor allem japanische Einfuhrsperren den Zorn der Amerikaner. Denn die Japaner hatten in den vergangenen Jahren den amerikanischen Markt mit Fernsehern, Radios, Automobilen, Stahl und Textilien überschwemmt -- den eigenen Markt dagegen mit Waren- und Kapitalimport-Verboten vor der US-Konkurrenz abgeschirmt.

So gelang es Japan seit 1968, im Handel mit den Vereinigten Staaten einen jährlichen Überschuß von mehr als einer Milliarde Dollar zu erzielen. In diesem Jahr wird der Export-Überschuß voraussichtlich sogar auf über zwei Milliarden Dollar steigen.

Erst als die Nixon-Administration massiven politischen Druck auf Tokio ausübte, begrenzten die Japaner ihre Textileinfuhren in die USA, strichen 60 Warenkategorien von ihrer Einfuhr-Verbotsliste und kündigten 20 weitere Streichungen für den September an. Außerdem öffneten die Japaner in der vergangenen Woche die meisten ihrer Industriezweige für Investitionen ausländischer Kapitalgeber.

Dem Wunsche Washingtons, die Japan-Ausfuhren durch eine Aufwertung des Yen zu verteuern, widersetzte sich Tokio dagegen. Als der amerikanische Wirtschafts-Staatssekretär Philip Trezise in Tokio den Yen als unterbewertet bezeichnete, schmetterte Japans Premier Eisaku Sato diese Erklärung als »Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten« ab.

Auch die theoretisch eleganteste Lösung des US-Handels- und Zahlungsbilanzproblems -- eine konzertierte Aktion der wichtigsten Welthandelsländer zur Neufestsetzung der Währungsparitäten -- stößt gegenwärtig auf unüberwindliche politische Schwierigkeiten.

Die traditionell starke Fraktion der Protektionisten im Kongreß und in der Industrie drängt daher den bisher noch zögernden Präsidenten zu »mehr Aktion und weniger Nachsicht« (Wilbur Mills. Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Repräsentantenhaus) in der US-Handelspolitik.

So schlug Mills in der vorletzten Woche vor, die Einfuhren durch Steuern zu bremsen und die Ausfuhren durch Subventionen zu fördern -- eine Aktion, die den Dollar im Außenhandel, nicht aber im Kapitalverkehr abwerten würde. Senator Hugh Scott aus Pennsylvanien brachte einen Gesetzentwurf ein, der die Einfuhrmengen für Eisen und Stahl beschränken soll.

Unter dem Beifall von Stahlindustriellen, die zudem noch auf eine Entschärfung der Antitrust-Gesetze hoffen, bekannte US-Ökonom Pierre A. Rinfret offen: »Ich bin für Protektionismus.« Denn eine großzügige Handelspolitik sei zwar nach dem Zweiten Weltkrieg sinnvoll gewesen. »Aber«, fuhr Rinfret fort. »wir bauen schon lange nicht mehr den Rest der Welt auf.«

Die Zeiten des Aufbaus sind in der Tat vorüber. Denn bereits im vergangenen Jahr überstiegen die Gewinne der Vereinigten Staaten aus ihren Auslandsinvestitionen die US-Kapitalausfuhr für Investitionen um 3,4 Milliarden Dollar. Bis 1975 werden die Auslandsgewinne der Amerikaner nach Schätzungen der Regierung auf 17 Milliarden Dollar steigen, die Investitionskapital-Ausfuhren hingegen sinken.

Lawrence Krause, Außenhandelstheoretiker an der Brookings Institution, argumentiert daher, die Vereinigten Staaten hätten sich zu einem »reifen Gläubigerland« entwickelt, das seine Einfuhren mit den Dividenden und Zinsen aus seinen Übersee-Investitionen bezahlt.

Ein »reifes Gläubigerland« war jahrzehntelang auch Großbritannien gewesen, bis es schließlich zum wirtschaftlich kranken Mann Europas wurde.

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