Vom Reformer zum Feindbild "Wie konnte das passieren, Herr Riester?"

Walter Riester (r.) mit Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer (M.) und Rentenexperte Bert Rürup (Aufnahme von 2007)
Foto: WALTER SCHMIDT / NOVUMEs gibt einen Ort, an dem Unterstellungen nur oft genug wiederholt werden müssen, dann sind sie gesetzt: dieser Ort ist die Suchmaschine Google. Wer dort den Namen "Walter Riester" eintippt, dem schlägt der Algorithmus automatisch ergänzend das Schlagwort "Vermögen" vor.
Weil viele, die Riester googlen, die Frage nach seinem Vermögen stellen. Sie suchen die Bestätigung eines verbreiteten Verdachts: der Schöpfer der Riester-Rente hat das doch sicher getan, um selbst finanziellen Nutzen daraus zu schlagen, durch lukrative Verträge mit der Versicherungswirtschaft. Oder?
Google liefert auch ein passendes Bild dazu: Riester und der Rentenreformer Bert Rürup reichen da dem umstrittenen Finanzmagnaten Carsten Maschmeyer lachend die Hand. Sie stehen in einer Art Musketierpose.

Walter Riester (r.) mit Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer (M.) und Rentenexperte Bert Rürup (Aufnahme von 2007)
Foto: WALTER SCHMIDT / NOVUMEs geht dabei um viel mehr als nur den Streit alter Männer. Dahinter steckt eine Richtungsdebatte, die bis heute nicht abschließend entschieden ist. Es geht um die Frage: Was ist besser für die Alterssicherung der Deutschen? Das Umlageverfahren (UV), bei dem alle arbeitenden Beitragszahler mit ihren Beiträgen die laufenden Auszahlungen an die aktuelle Rentnergeneration finanzieren? Oder doch das Kapitaldeckungsverfahren (KDV) - auf dem die Riester-Rente basiert - bei dem Sparer während ihres Berufslebens Kapital aufbauen, das sie als Rentner ausgezahlt bekommen?
Walter Riester sitzt in seiner Wohnung am östlichen Stadtrand von Berlin. Der Blick geht hinaus auf die Spree. Der 74-Jährige hat das Apartment vor einigen Jahren bezogen. "Die Fliesen", das ist ihm wichtig zu betonen, "hab' ich selbst verlegt." So hat er 1957 seine Berufstätigkeit begonnen, mit einer Lehre als Fliesenleger. Jetzt kämpft er um seinen Ruf - und sein Lebenswerk.
SPIEGEL ONLINE: Verbraucherschützer kritisieren immer wieder die hohen Kosten der Riester-Renten-Verträge: Die Provisionen für die Versicherungskonzerne seien zu hoch. Wieso haben Sie eine Konstruktion eingeführt, die auf den Vertrieb der Finanzkonzerne angewiesen ist?
Riester: Während des damaligen Gesetzgebungsverfahrens kamen die wichtigsten Repräsentanten der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zu mir und haben gefragt: Herr Riester, würden Sie unterstützen, dass wir als GRV diese kapitalgedeckte Versicherung anbieten? Ich war natürlich einverstanden. Nach einer Woche rief mich der Chef der GRV an und sagte ab.
SPIEGEL ONLINE: Das hätte doch viele heutige Kritikpunkte entschärft, die hohen Provisionen wären weggefallen, die Beratung wäre vermutlich besser gewesen.
Riester: Mich hat die Absage damals nicht überrascht. Die gesetzliche Rentenversicherung hatte ja keine eigene Vertriebskapazitäten. Da waren wir auf den Vertrieb der Versicherungskonzerne angewiesen, also das Vertreternetz und die Werbekapazitäten. Ohne die waren die Verträge nicht an den Mann zu bringen.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben die Riester-Rente aber doch immer als lukrativ für die Kunden angepriesen. Da hätten die Leute sich doch darum reißen müssen.
Riester: Es war dennoch überhaupt nicht zu erwarten, dass die Masse der Leute aus eigener Einsicht und Disziplin mitmachen würde. Dafür hätten wir die kapitalgedeckte private Versicherung verpflichtend machen müssen. Auf freiwilliger Basis machen - trotz der hohen Förderung - bei solchen Vorsorgeprogrammen immer nur wenige mit.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Riester: Das Verhalten der Menschen ist leider so! Darüber hat ja auch der Nobelpreisträger Richard H. Thaler gesprochen: In jedem Menschen gebe es den Konflikt zwischen dem "Planer" und dem "Macher". Der Planer weiß, dass er vorsorgen sollte - aber der Macher gibt das Geld dann doch lieber für kurzfristigere Belange aus.
SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht eine sehr abstrakte Theorie?
Riester: Sie können das an praktischen Beispielen beobachten. Schauen Sie sich das Verhalten von geringfügig Beschäftigten an. Ursprünglich waren die nicht automatisch Mitglied in der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie konnten aber auf eigene Initiative freiwillig einzahlen: 15 Prozent zahlt dann der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer steuert 4,7 Prozent bei und ist drin. Ein sehr gutes Geschäft! Gerade einmal fünf Prozent haben das in Anspruch genommen. Dann wurde das System umgestellt: Geringfügig Beschäftigte sind jetzt automatisch in der Rentenversicherung, können aber austreten. Viel besser ist es nicht geworden: 80 Prozent verlassen sie wieder. Das ist ein Einstellungsproblem.
SPIEGEL ONLINE: Machen Sie es sich da nicht etwas einfach? Ist es nicht vielmehr so, dass viele Bürger zu wenig Geld haben, um vorzusorgen?
Riester: Ich stelle nicht in Abrede, dass Sparen gerade mit kleineren Einkommen schwer sein kann. Aber es gibt diesen Zielkonflikt in jedem Menschen: Lege ich Geld beiseite - oder gebe ich es doch lieber aus, wenn ich es gerade gut gebrauchen kann. Ich bin mir sicher: Wenn es in Deutschland keine Rentenversicherungspflicht gäbe, wir hätten massive Probleme mit Altersarmut.
SPIEGEL ONLINE: Sie stehen ebenso wie der ehemalige Regierungsberater Bert Rürup in der Kritik, weil Sie nach Ihrer Zeit als Minister für die Versicherungsbranche tätig waren.
Riester: Geben Sie mal Obacht: Die Finanzbranche hat keinen Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren gehabt. Als ich einfaches Mitglied im Bundestag war, wurde ich eingeladen, Vorträge zu halten. Meistens waren das Ausbildungsveranstaltungen mit Kundenberaterinnen und -beratern von Sparkassen, aber auch Vertriebsleuten von Versicherungen. Es gab damals viele kritische Medienberichte, die Versicherungsvertreter würden die Leute schlecht beraten. Mir ging es darum, denen zu erläutern, was sich der Gesetzgeber dabei gedacht hatte und für wen sich die Instrumente eignen.
SPIEGEL ONLINE: Warum sind Sie dann auch Mitglied im Aufsichtsrat von Union Investment geworden? Das ist einer der größten Anbieter der Riester-Rente.
Riester: Die Union Investment kam auf mich zu mit dem Argument: Herr Riester, wir würden gern Ihr Wissen mit reinnehmen. Ich bin nicht naiv, die wollten natürlich auch meinen Namen. Ich habe gesagt, das mache ich nicht, solange ich Abgeordneter bin. Nach meinem Ausscheiden war ich dann drei Jahre Mitglied des Aufsichtsrats. Ich bin vergütet worden wie jedes andere Mitglied auch.
SPIEGEL ONLINE: Es gibt Fotos, die zeigen Sie lachend mit Bert Rürup und dem Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer. Hat diese Nähe Ihrem Anliegen nicht viel mehr und nachhaltiger geschadet, als jede Schulung von Beratern nutzen konnte? Müssten Sie nicht rückblickend sagen: Das war ein Fehler?
Riester: Das hat geschadet, klar, da gebe ich Ihnen Recht. Als Fehler sehe ich es nicht. Die damals großen Vertriebe wie Maschmeyers AWD, aber auch die Deutsche Vermögensberatung DVAG waren wichtig für den Erfolg der Riester-Rente. Maschmeyer hat Riester-Verträge zunächst allerdings kaum vertrieben. Ich habe ihn das erste Mal 2007 bei einer Veranstaltung getroffen, fünf Jahre nach meinem Abschied als Minister .
SPIEGEL ONLINE: Maschmeyer hatte Ihren Chef Gerhard Schröder im Wahlkampf 1998 unterstützt.
Riester: Daraus wird konstruiert, er hätte Einfluss auf die Riester-Rente gehabt. Ich verstehe, dass die Öffentlichkeit, der Leser, so etwas gern aufnimmt. Das ist aber albern. Maschmeyer hatte damit null zu tun. Und ich bleibe dabei: Warum hätte ich ausgerechnet die Mitarbeiter eines durchaus umstrittenen Konzerns wie der AWD nicht schulen sollen, worauf sie im Interesse ihrer Kunden achten sollen?
SPIEGEL ONLINE: Das Bild von einer Klüngel-Clique mag konstruiert sein, seine Wirkung ist in jedem Falle verheerend.
Riester: Im Kern können Sie das aber kaum vermeiden. Da ist dieses Foto, von dem Sie gesprochen haben: Maschmeyer in der Mitte, daneben Rürup und ich. Wir waren in einem Pressegespräch vor einer dieser Veranstaltungen. Ich hatte mit Rürup diskutiert. Wir waren uns einig, und er streckte die Hand zu mir aus. Maschmeyer hat dann spontan seine Hand auf unsere gelegt. Das hat geschadet, aber ich kann es auch nicht mehr ändern.
SPIEGEL ONLINE: Worüber hatten Sie und Rürup diskutiert?
Riester: Rürup hatte noch sehr lange gefordert, die private kapitalgedeckte Zusatzversicherungen nicht auf freiwilliger Basis einzuführen, sondern verpflichtend. Das war ja auch immer meine Position gewesen.
SPIEGEL ONLINE: Sie wollten die Riester-Rente ja ursprünglich als Pflichtversicherung einführen.
Riester: Dann hätten wir die Versicherungsbranche gar nicht für den Vertrieb der Verträge gebraucht, weil automatisch alle Beitragszahler drin gewesen wären. Es gab aber keine politische Mehrheit dafür.

Riester und der designierte SPD-Kanzler Gerhard Schröder bei Koalitionsverhandlungen 1998
Foto: DPASPIEGEL ONLINE: War die Idee mit Schröder besprochen?
Riester: Ich hatte seine volle Rückendeckung. Wir haben das in kleiner Runde besprochen: Schröder, der damalige Finanzminister Hans Eichel, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ulla Schmidt . Ich habe damals gebeten, es möge sich zunächst keiner zu den Plänen äußern. Ich wollte drei Monate Zeit, um die Idee mit Fleisch zu füllen und auch eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln. Das haben alle hoch und heilig versprochen. Das Schweigen hat dann genau vier Tage gehalten.
SPIEGEL ONLINE: Und dann?
Riester: Rief ein Reporter der "Bild" an und sagte meiner Pressechefin: "Wir wissen, was Ihr Minister will, und werden morgen mit der Zeile 'Riester plant Zwangs-Rente' aufmachen. Für den darauffolgenden Tag plant die Redaktion dann die Schlagzeile 'Wann fliegt Riester?'". Das könne ich nur abwenden, wenn er ein exklusives Interview bekomme. Ich hab es ihm dann gegeben.
SPIEGEL ONLINE: Die Schlagzeile von der geplanten "Zwangsrente" machte die "Bild" dann trotzdem. Wieso war danach der Rückhalt in der Regierung weg? Welche Mechanismen bringen so eine Reform zum Scheitern?
Riester: Nach dem Artikel schickte der Grüne Rezzo Schlauch nach meiner Erinnerung am gleichen Tag noch eine Pressemitteilung raus. Er war über den ganzen Vorgang gar nicht informiert, ließ aber wissen: Mit den Grünen sei das auf keinen Fall zu machen. Dann kam Ulla Schmid und sagte: "Walter, das habe ich ja ganz falsch verstanden!" Ich könne doch nicht ernsthaft glauben, dass "dabei auch die Kassiererin vom Lidl mitmachen kann"?
SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie erwidert?
Riester: Dass ich mir genau das hervorragend vorstellen kann! Die Kassiererin würde ja für gerade einmal fünf Euro im Monat die volle staatliche Förderung bekommen. Doch das half nichts, alle haben sich mehr oder weniger von mir abgesetzt. Alle, außer Schröder.
SPIEGEL ONLINE: Wie war seine Reaktion?
Riester: Er rief mich an und sagte: "Ich teile deine Auffassung, aber wir brauchen eine Mehrheit im Bundestag." Seine Idee war, die Riester-Rente erst freiwillig durchs Parlament zu bringen und dann im Zuge einer Überprüfung später vielleicht obligatorisch durchzusetzen.
SPIEGEL ONLINE: Daraus ist nichts geworden. Im Gegenteil, inzwischen stagniert die Zahl der Riester-Verträge bei etwa 16,5 Millionen. Viele davon sind ruhend gestellt: Sie wurden zwar nicht gekündigt, es fließen aber auch keine Einzahlungen mehr. Wie konnte das passieren?
Riester: Ein Grund ist die Einstellung der Menschen. Vorsorgen fürs Alter ist für die Leute etwas, das sie immer weiter vor sich herschieben. Fatal ist, wenn dann eine Berichterstattung dazu kommt, die suggeriert: Das ist alles Betrug, lasst lieber die Finger davon.
Nach schleppendem Beginn setzte ab 2005 zunächst ein Ansturm auf die Riester-Verträge ein. Dann drehte sich die Stimmung, in der Öffentlichkeit und in den Medien. Vor allem die ARD-Sendung "Monitor" sendete zahlreiche kritische Berichte. In einem Beitrag wird eine junge, alleinerziehende Mutter mit der Information konfrontiert, womöglich im Alter - trotz Riester-Zusatzversicherung - nicht mehr Geld zur Verfügung zu haben, weil die Auszahlung aus der Riester-Rente auf die Grundsicherung angerechnet wird. Das wurde auch von vielen Zeitungen aufgegriffen. Geringverdienern bringe das Riestern nichts, war der Tenor.
SPIEGEL ONLINE: Vor allem im Fernsehen hieß es in vielen Berichten, riestern spare nur dem Sozialamt Geld. Ist das nicht tatsächlich ein Kernproblem? Geringverdiener können nicht wissen, was ihnen vom Ersparten tatsächlich bleibt.
Riester: Das Problem ist inzwischen weitgehend bereinigt. Seit diesem Jahr sind 100 Euro Riester-Rente auch für Bezieher der Grundsicherung anrechnungsfrei, alle Beträge darüber hinaus werden nur teilweise angerechnet, 30 Prozent bleiben frei.
SPIEGEL ONLINE: Hypothetisch gesprochen: Was bedeutet das für die Frau aus dem ARD-Bericht?
Riester: Falls sie damals wegen der Sendung ihren Vertrag gekündigt hat, dann hat sie auch die gesamte staatliche Förderung verloren, das sind derzeit 300 Euro für jedes Kind pro Jahr. Dabei würde ihr die Auszahlung nicht oder nur zum Teil angerechnet, wenn sie eines Tages in Rente geht.
SPIEGEL ONLINE: Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hat in einem SPIEGEL-Interview 2016 kritisiert, die Riester-Rente sei ein großes Umverteilungsprogramm von Geringverdienern zu Reichen, weil vor allem Besserverdiener die staatlichen Zulagen kassieren würden. Hat er Recht?
Riester: Ich habe Fratzscher daraufhin angerufen und wollte wissen, auf welche Daten er sich dabei denn bitte stützt. "Herr Riester", hat er gesagt, "was soll ich Ihnen Daten nennen, das ist doch allgemein bekannt." Das DIW hat eine Untersuchung veröffentlicht, die das zu belegen scheint. Das Problem: Die Studie stützt sich lediglich auf eine repräsentative Umfrage.
SPIEGEL ONLINE: Befragungen repräsentativ ausgewählter Haushalte sind ein gängiges, wissenschaftliches Verfahren. Warum sollte das ein Problem sein?
Riester: Solche Umfragen können schätzen, wie die wahre Verteilung in der Gesamtbevölkerung ist, wenn man diese Verteilung genau nicht kennt, etwa bei Wahlumfragen. Sie fragen tausend repräsentativ ausgewählte Leute, welche Partei sie unterstützen, um auf die Stimmung in der Bevölkerung zu schließen. Das ist bei der Riester-Rente aber völlig überflüssig. Wir wissen ja ganz genau, wer einen Vertrag abgeschlossen hat und wie hoch sein Einkommen ist. Die zentrale Zulagestelle erfasst ja genau das für jeden einzelnen Vertrag: Wer bekommt - auf Basis seines Einkommens und seiner gesparten Beiträge - welche staatliche Zulage? Das liegt alles vor und wird von der Rentenversicherung auch veröffentlicht ("Rentenversicherung in Zahlen", S. 77 ). Da steht schwarz auf weiß: 21,6 Prozent der Verträge halten Leute mit weniger als 10.000 Euro Einkommen im Jahr, weitere 20 Prozent verdienen bis 20.000 Euro, 19 Prozent bis 30.000 Euro. Zwei Drittel der Riester-Rentner liegen also unterhalb des Durchschnittseinkommens.
SPIEGEL ONLINE: Die Idee der Zusatzversicherung ist entstanden, als die Zinsen noch höher waren. Wegen der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken lohnt sich Sparen doch kaum noch: Haben Sie in der Hochzeit des neoliberalen Denkens auf das falsche Pferd gesetzt?
Riester: Die derzeit niedrigen Zinsen treffen vor allem diejenigen, die sparen, um sich mittelfristige Wünsche zu erfüllen: eine Wohnung, ein Auto. Die sind gekniffen, weil sie seit Jahren kaum Zinsen bekommen. Am wenigsten macht das aber denjenigen aus, die langfristig für den Ruhestand sparen. Über Jahrzehnte gesehen fällt die derzeitige Phase kaum ins Gewicht, sie kann ausgeglichen werden. Derzeit zeichnen sich doch wieder etwas steigende Zinsen ab.
SPIEGEL ONLINE: Norbert Blüm lässt auch kein gutes Haar an der Riester-Rente.
Riester: Seine Argumente sind ideologiebehaftet und ihre Wirkung auf die Bevölkerung ist fatal.
SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?
Riester: Er macht den Leuten weis, die gesetzliche Rente sei konzipiert worden als eine den Lebensstandard sichernde Versorgung. Das ist in mehrfacher Hinsicht falsch: Blüm hat bis heute nicht begriffen, wie sich das deutsche Rentensystem entwickelt hat.
SPIEGEL ONLINE: Blüm war immerhin Ihr Vorgänger als Minister für Arbeit und Sozialordnung.
Riester: Er sagt: die kapitalgedeckte Vorsorge torpediere die gesetzliche Rentenversicherung. Man solle das Geld lieber einsetzen, um das Umlageverfahren zu stützen. Schließlich habe "unsere gute alte Rentenversicherung zwei Kriege und eine Hyperinflation überstanden". Das ist völlig falsch: Als Bismarck die Rentenversicherung einführte, war sie ja kapitalgedeckt, nicht umlagefinanziert! Dieser Kapitalstock hat nicht überlebt, er wurde bis 1945 völlig aufgebraucht und entwertet.

Riester-Rivale Norbert Blüm
Foto: imago/Horst Galuschka
SPIEGEL ONLINE: Das Umlagesystem wurde erst später eingeführt.
Riester: Das war mit der Rentenreform 1957. Sie hatte zwei Aufgaben: Sie sollte trotz fehlenden Kapitals die dramatische Armut lindern und eine Dynamisierung einbauen, also automatische Steigerungen. Das Umlagesystem war damals die Lösung für die akute Rentnernot, die Finanzierung der Rentenzahlungen aus den laufenden Einzahlungen der Beschäftigten. Heute kennen Sozialpolitiker diese Gründungsphase überwiegend gar nicht mehr und argumentieren, die Rente habe immer den Lebensstandard gesichert. Das hat sie objektiv nie getan. Und über die Jahrzehnte haben sich die Herausforderungen des Systems gewandelt.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Riester: Als meine Großeltern Anfang der Fünfzigerjahre in Rente gingen, richteten sie sich darauf ein, sich finanziell massiv zurückzunehmen. Ihnen war klar, dass sie zum Überleben angewiesen sein würden auf die Hilfe ihrer Familien. Für die heutige Rentnergeneration ist das unvorstellbar: Wenn sie noch ein bisschen fit sind, wollen sie kulturell und sportlich aktiv sein. Sie haben Enkel, denen sie etwas schenken wollen. Und ganz sicher wollen sie nicht abhängig sein von ihren Kindern. Das ist eine enorme positive Entwicklung. Doch die Rücklagenbildung hat nie Schritt gehalten mit dieser Entwicklung. Hinzu kommt, dass sich die Bezugsdauer mehr als verdoppelt hat.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen die steigende Lebenserwartung?
Riester: Wer 1957 in Rente ging, hatte im Schnitt eine Rentenzeit von etwa zehn Jahren. Als ich 1998 Minister wurde, waren 16 Jahre, 2016 waren es fast 20. Das ist eine Verdoppelung der Rentenbezugszeit innerhalb von einer Erwerbsgeneration, super positiv, aber dafür ist das System nicht angelegt.
SPIEGEL ONLINE: Sie gehören zu den Befürwortern einer Erhöhung des Renteneintrittsalters. Was ist mit vielen körperlich anstrengenden Jobs, die niemand bis 67 oder länger ausüben kann?
Riester: Ich habe mit 13 Jahren als Fliesenleger angefangen. Ich weiß, was schwere Arbeit ist. Ich weiß auch, dass die schweren, körperlichen Arbeiten zum Glück rückläufig sind. Ziel der Politik muss es sein, nicht menschengerechte Tätigkeiten abzuschaffen oder weitgehend zurückzufahren. Auf der anderen Seite kann man hier auch wieder ein Kernproblem der Altersvorsorge sehen: Der Schichtarbeiter, der Bauarbeiter, der müsste seine Erschwerniszulagen eigentlich als Vorsorge zurücklegen. Das tun leider nur wenige.
SPIEGEL ONLINE: Machen andere Länder es besser als Deutschland?
Riester: Es gibt kein Modell, wo ich sagen würde: Das ist die Blaupause für uns. Die Linke hat früher immer von der Schweiz gekräht, auch Gregor Gysi, den ich sonst sehr schätze. Die argumentieren: Die Schweiz ist ja auch kein kommunistischer Staat - trotzdem müssen Milliardäre dort viel mehr in das Rentensystem einzahlen. Das wollen wir in Deutschland auch haben, das wär' solidarisch. Was die Linken nicht sagen: Sozialsysteme müssen insgesamt betrachtet werden. Die Rentenversicherung ist ja nur ein Baustein. Der Schweizer Milliardär hat auch deshalb kein Problem damit, mehr in die Rente einzuzahlen, weil zugleich seine Steuern sehr viel geringer sind als in Deutschland.
SPIEGEL ONLINE: In der letzten Zeit wird eher Österreich als Vorbild für Deutschland genannt.
Riester: Ich lebe im Sommer in Österreich, ich kenne das System dort gut. Es hat Vorteile und Schwachstellen. Die Arbeitgeber müssen dort einen deutlich höheren Beitrag zur Rentenversicherung zahlen als die Arbeitnehmer. Ja, die österreichischen Renten sind zwar deutlich höher, werden aber auch stärker besteuert. Und das ganze System funktioniert nur dank eines sehr hohen Steuerzuschusses.