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KREDITE Rohe Bräuche

Kreditnehmer tilgen in wachsendem Umfang vorzeitig ihre Schulden -- und verärgern ihre Gläubiger.
aus DER SPIEGEL 8/1978

Er hat kaum sein neues Amt angetreten, da bekommt Hans Matthöfer eine erste Chance, als Finanzminister deutsche Sparer zu verärgern.

Bis zum 1. Mai muß Matthöfer entscheiden, ob der Bund zwei Stabilitätsanleihen von 1973 noch in diesem Jahr, also weit vor dem Ende der auf acht Jahre angelegten Laufzeit, zurückzahlt. Die nach den Anleihebedingungen mögliche vorzeitige Kündigung brächte die Anleihezeichner um den stattliehen Zins von zehn Prozent.

Eine Wiederanlage der zurückgezahlten Gelder in frische Festverzinsliche wirft lediglich etwas mehr als die Hälfte der bisher kassierten Gelder ab: Staatspapiere werden nur noch mit knapp sechs Prozent verzinst.

Jeder Umtausch alter, hoch verzinster Papiere gegen die neuen Niedrigprozenter ist für den Staat ein Geschäft. Seine Kapitalkosten nehmen im Gleichschritt mit den Kapitalerträgen seiner Gläubiger ab. Vorsorglich hat der Schuldner Staat bei der Kreditaufnahme häufig eine Klausel vorgesehen, die eine Kündigung vor dem Ende der Laufzeit gestattet.

Zum April zahlt erstmals seit Beginn des langen Zinsrutsches ein Kreditinstitut seine teuren Schulden vorzeitig zurück. Die Bayerische Vereinsbank kündigte -- unter Hinweis auf vertragliche Vereinbarungen -- Pfandbriefe und Kommunalobligationen (Zinssatz: siebeneinhalb und acht Prozent) weit vor Ablauf der Frist.

»Ein ganz normaler Vorgang«, findet der Hypothekenchef des Münchner Instituts, Hans Günther Schönmann. Weil immer mehr Schuldner ihre Kredite zurückreichen, müsse auch die Bank sich ihr Geld billiger beschaffen.

Bereits im letzten Jahr registrierten die großen Geldgeber, Banken und Versicherungen, eine Kündigungswelle ihrer Kreditkundschaft. Private Bauherren, die ihr Eigenheim vor wenigen Jahren noch mit Hypothekendarlehen zu über zehn Prozent finanzieren mußten, stornierten ihre Verträge und verschuldeten sich -- für drei oder vier Prozent weniger -- bei der willigen Konkurrenz.

Aber auch gewerbliche Kreditnehmer, vom mittelständischen Unternehmen bis zum Konzern, verschaffen sich zunehmend Erleichterung auf Kosten ihrer Gläubiger. Sie berufen sich auf die guten Geschäftsbeziehungen, drohen mit Kündigung -- und fordern eine Minderung ihrer Zinslast.

»Die großen Firmen«, klagt ein Berliner Bankier, »erpressen uns regelrecht. Alles erste Adressen, da können wir es auf Prozesse nicht ankommen lassen.«

Nicht nur wegen der Adressen. Viele Schuldner können sich auf das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) berufen, wenn sie, der niedrigen Zinsen wegen, umschulden wollen.

Nach Paragraph 247 BGB steht jedem Darlehnsnehmer, der laut Vertrag mehr als sechs Prozent Zinsen zu zahlen hat, ein besonderes Kündigungsrecht zu. Und auf diese Bestimmung, vor 80 Jahren zum Schutz des kleinen Mannes gegen Wucherzinsen in das Gesetzbuch aufgenommen, können im Zweifel auch die Mächtigen unter den Kreditnehmern pochen.

Der Bundesverband deutscher Banken hat Ende 1977 das Bundesjustizministerium aufgefordert, für eine Abschaffung des angeblich nicht mehr zeitgemäßen Wucherparagraphen zu sorgen. Die Schutzbestimmung dürfe nur für die kleinen privaten Kreditnehmer gelten, die Zinsschwelle des Paragraphen 247 sei deutlich anzuheben.

Auch die großen Versicherungsunternehmen, die über eine wachsende Zahl von Hypotheken- und Darlehenskündigungen klagen, rufen nach einer Änderung der BGB-Schutzvorschrift. Arno Paul Bäumer, Allianz-Vorstand und Präsident des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft, fragte öffentlich nach dem Sinn einer Vorschrift, »die der Vertragstreue einen so minderen Rang einräumt«.

Hartnäckig suchen die Versicherer die Flut der zurückströmenden Kredite durch Appelle an die Vertragstreue und Warnungen vor einem Rechtsmißbrauch einzudämmen. Selbst schwarze Listen für vertragsbrüchige Großschuldner wurden diskutiert.

Wie roh die Bräuche inzwischen geworden sind, mußte auch ein privater Bauherr erfahren, der ein Hypothekendarlehen über 160 000 Mark bei der Allianz in Stuttgart kündigte, weil ihm eine Hypothekenbank bessere Konditionen bot.

Die Allianz lehnte es ab, über einen Notar die Löschungsbewilligung für den Grundbucheintrag Zug um Zug gegen die geschuldete Summe einzutauschen. Die finanzielle Abwicklung wurde dadurch fast unmöglich.

Das war konsequent. Denn eine hausinterne Allianz-Anweisung sieht den kulanten Umgang mit kündigungswilligen Kunden nicht vor.

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