INTERZONEN-LIEFERUNGEN Ruhrstahl auf Umwegen
Wochenlang hofierten Düsseldorfer Industrieherren einen kleinen unscheinbaren Mann in schlechtsitzendem Konfektionsanzug, grünweiß gestreiftem Hemd und dunkelblauer Krawatte. Sie schleppten ihn durch Düsseldorfs Weinkneipen und Schlemmerlokale und ließen sich bei ihren Bemühungen um die Gunst dieses Mannes auch durch sein Bekenntnis nicht beirren:
»Ich bin, seit dreißig Jahren überzeugter Marxist.«
Der so heftig umworbene Gast war, der ehemalige Schlosser Fritz Dolling, der heute Generaldirektor der Stahleinkaufs-Zentrale der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik ist, der »Deutschen Stahl- und Metall-Handelsgesellschaft mbH« in Ostberlin.
Der Generaldirektor volkseigener Provenienz hatte den Vorstandsmitgliedern der großen Stahlgesellschaften mitgeteilt, das Ostberliner Ministerium für Maschinenbau habe ihn ermächtigt, »jede mögliche Menge Stahl in Westdeutschland gegen Barzahlung aufzukaufen«. Dölling ließ durchblicken, daß die DDR nicht nur über Ostmarkreserven verfügt, sondern auch über erhebliche Devisen- und Westmarkbestände.
Jährlich fließen etwa 120 Millionen Westmark in die Kassen der DDR-Notenbank; allein die Volkspolizei hat von westdeutschen Autofahrern im Verkehr nach Mitteldeutschland und Berlin bisher über 50 Millionen Westmark Straßenbenutzungsgebühren kassiert. Außerdem haben Dollings sowjetische Freunde kürzlich der DDR 340 Millionen Rubel zugestanden. Diese Wirtschaftshilfe soll zum großen Teil in Devisen und Goldbarren verabfolgt werden.
»Ich kann für 500 Millionen Mark im Jahr Stahlerzeugnisse in der Bundesrepublik kaufen«, lockte Dolling die westdeutschen Stahlfirmen. »Sie brauchen nur zu liefern. Ich zahle sofort in bar.« Die Düsseldorfer Herren rangen mit sich selbst, mit ihrer Spitzenorganisation - der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie - und mit der Bonner Interzonen-Handelsstelle, die jedoch keine Barverkäufe in die politisch verfemte DDR gestattet.
Der Handel zwischen den Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenze beschränkt sich auf den Austausch bestimmter Waren, dessen Umfang alljährlich neu festgesetzt wird. Nach den Spielregeln des Interzonenhandelsvertrages kann die Zone Stahl, Bleche und andere Metallprodukte aus Westdeutschland nur bekommen, wenn sie als Gegenleistung Güter liefert, auf die das Bundeswirtschaftsministerium Wert legt; das sind in erster Linie Braunkohlenbriketts, die allerdings auch in der DDR knapp geworden sind.
Bonner Paragraphengestrüpp
Da Polen seit dem nationalkommunistischen Kurswechsel keine Steinkohlen und keinen Koks mehr für Ulbrichts volkseigene Industrie liefert, mußten die Großbetriebe der Zone immer mehr auf die mitteldeutsche Braunkohle zurückgreifen:. Vom 26. November vorigen Jahres an schickte die DDR daher keine Braunkohlenbriketts mehr ins Bundesgebiet und nach Westberlin, nachdem sie ohnehin schon mit einer Million Tonnen in Verzug
geraten war.
Daraufhin stoppte die Interzonen-Handelsabteilung des Bonner Wirtschaftsministeriums auch die westdeutschen Stahllieferungen, wodurch die volkseigene Industrie der DDR, von Polen im Stichgelassen, erst recht in Rohstoffschwierigkeiten* geriet.
Die mannigfachen Vorstöße des Ostberliner Abgesandten Dolling veranlaßten die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie in Düsseldorf, beim Bundeswirtschaftsministerium die Errichtung eines Geldkontos für den Interzonen-Handel zu beantragen, auf das dann die DDR Westmarkbeträge oder Devisen überweisen sollte, um ihre ausgebliebenen Lieferungen nun durch Barzahlungen zu ersetzen. Auch dem DDR-Handelsministerium wurde dieser Vorschlag unterbreitet.
Dollings Genossen in Ostberlin erklärten sich damit einverstanden, sofern es sich um Rückstände der Gegenlieferungen für westdeutschen Stahl handelt. Bei anderen Warengattungen wünschten sie jedoch keine Barabrechnung. Daraufhin konnte der Beauftragte des Bundeswirtschaftsministeriums für den Interzonenhandel, Ministerialrat Dr. Gerhard Woratz, diese - nach Bonner Meinung - recht unbequemen Verhandlungen platzen lassen.
Die Absage wurde jedoch von den Stahlfirmen mit heftigem Protest quittiert, den Woratz nicht dämpfen konnte, als er sich kürzlich zur Aussprache mit den am Interzonen-Handel interessierten Wirtschaftlern im Saal der Düsseldorfer Rheinterrassen einfand. Auch aus Ostberlin waren Dutzende von Wirtschaftsfunktionären zu den Rheinterrassen geströmt. Der Versammlungsraum war derart überfüllt, daß etliche Industrieherren sich auf die Treppenstufen hockten oder mit Stehplätzen vorliebnehmen mußten.
Woratz bemühte sich eifrig, den Standpunkt des Bundeswirtschaftsministeriums zu rechtfertigen. Der stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Außenhandelsfragen, Robert Margulies (FDP), ignorierte jedoch kurzerhand das Bonner Paragraphengestrüpp, nach dem sich Woratz richten muß, und erklärte unbefangen: »Ich habe in Ihren Ausführungen den guten Willen vermißt, den 18 Millionen Brüdern in der Zone zu helfen. Warum gestehen wir der DDR im Handel nicht dasselbe zu wie anderen Staaten?«
Diese Frage wurde sofort von einem gedrungenen Mann aufgegriffen, der sich als Generaldirektor Kurt Schmeißer von der Ostberliner Handelszentrale »Deutscher Innen- und Außenhandel, Abteilung Maschinen-Export«, vorstellte. Er versicherte im Ulbricht-Sächsisch, die DDR werde ihren Verpflichtungen nachkommen, und polemisierte dann: »Die Japaner sind bei der Bundesrepublik mit 100 Millionen Mark verschuldet, die DDR angeblich mit 89 Millionen. Mit Japan handelt die Bundesrepublik weiter, mit der DDR nicht. Warum nicht? Sind die Japaner bessere Brüder als wir Deutsche in der DDR?«
Mit der unelastischen Bonner Interzonenhandelspraxis - so hatten dem Woratz auch die Opponenten aus der Industrie schon öfter entgegengehalten - werde man weder die SED-Führung zum Bankrott treiben noch verhindern können, daß die Zone auf Umwegen Stahl aus dem Westen erhält.
Inzwischen hatte sich nämlich der Ostberliner Generaleinkäufer Fritz Dolling nach anderen Geschäftsfreunden umgesehen, denen es gleichgültig ist, ob und wie lange sich Ulbricht noch als Zonendiktator halten kann. Dolling fuhr zu den Montan-Union-Partnern der Bundesrepublik - nach Frankreich und Belgien -, die ihren Export nicht durch bürokratische Anordnungen knebeln. Dort erreichte Dolling, was man ihm in Düsseldorf schweren Herzens versagen mußte.
Allerdings, billig gaben die Franzosen und Belgier den Stahl nicht her. Dolling mußte in Lille und bei den belgischen Stahlhändlern in Antwerpen und Brüssel mindestens, 20 Prozent mehr zahlen, als die Düsseldorfer Stahlhändler fordern, obwohl es sich vielfach um Ruhrstahl handelte, den er kaufte und den die westdeutschen Produzenten vorher nach Frankreich und Belgien geliefert haften.
In jüngster Zeit sollen sich - wie sowjetdeutsche Stahleinkäufer ihren Düsseldorfer Bekannten schadenfroh mitteilten - auch noch österreichische, schweizerische, holländische und neuerdings sogar englische Stahlhändler in dieses lukrative Geschäft eingeschaltet, haben. Sie kaufen soviel Ruhrstahl wie sie bekommen können, und verkaufen ihn dann mit hohem Aufschlag an Dolling.
Als Dolling in der vergangenen Woche auf der Durchreise nach Frankreich in Düsseldorf übernachtete, renommierte er mit verschmitztem Gesicht: »Überall reißt man sich um mich, weil Frankreich und die Benelux-Staaten sich den Markt der DDR sichern wollen.«
* Wegen des Ausfalls von oberschlesischen Kokslieferungen mußten einige Hochofen der Sowjetzone stillgelegt werden, so daß auch die eigene Stahlproduktion der DDR schrumpfte.
Ostberliner Einkäufer Dolling
»Ich zahle 500 Millionen Mark in bar«
Bonner Ministerialrot Woratz
Bargeld aus der Sowjetzone unerwünscht