Risiko einer Wirtschaftskrise Wer ein Energieembargo fordert, muss die Gefahren kennen

Erdgasverdichterstation im ukrainischen Wolowez: »Kaskadeneffekte auch für andere Unternehmen«
Foto:Pavlo Palamarchuk / dpa
Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine fordern viele Prominente aus Politik und Kultur ein sofortiges Embargo von Energieimporten aus Russland. Und auch die Wissenschaft hat sich zu Wort gemeldet. Beispielsweise schreiben die Verfasser einer Stellungnahme der Leopoldina, dass »ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre«.
Tatsächlich spricht allerdings einiges dafür, dass diese Formulierung die wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines kurzfristigen Stopps russischer Energieimporte verharmlost. Wahrscheinlicher ist, dass ein abrupter Lieferstopp – der sogenannte Cold Turkey – eine neue Wirtschaftskrise verursachen würde. Ähnlich wie in der Coronakrise dürfte die Wirtschaftsaktivität einbrechen und Arbeitslosigkeit oder zumindest Kurzarbeit in die Höhe schnellen. Darüber hinaus gäbe es einen zusätzlichen Inflationsschub mit einem weiteren Anstieg der Lebenshaltungskosten.
Zuerst dürfte ein Lieferstopp zu Produktionsunterbrechungen in der Industrie führen. Kurzfristig lassen sich vor allem für russisches Gas, aber auch für die Kohle aus Russland keine alternativen Lieferquellen erschließen, die den Lieferausfall auch nur annähernd vollständig ausgleichen. Industriebetriebe mit hohem Energieverbrauch müssten mit Rationierung rechnen und den Betrieb herunterfahren oder die Produktion ganz einstellen. Das beträfe nicht nur jene Unternehmen, die Erdgas etwa für Prozesswärme benötigen, sondern potenziell auch Stahlwerke, die russische Kohle verheizen, und Großverbraucher von Strom, weil Erdgas und russische Kohle in der Elektrizitätserzeugung eingesetzt werden.
Heftiger Inflationsschub
Das würde Kaskadeneffekte auch für andere Unternehmen nach sich ziehen: Wie wir in den vergangenen beiden Jahren schmerzhaft etwa in der Automobilindustrie gesehen haben, kann eine kleine Störung in den komplexen Wertschöpfungsketten einer modernen Volkswirtschaft erhebliche Auswirkungen auf die Produktion nachgelagerter Unternehmen und angrenzender Branchen haben. Als im Frühjahr 2020 in der ersten Coronawelle der Autoindustrie Teile aus Italien fehlten, stand die Produktion zeitweise fast vollständig still. Und als 2021 Halbleiter knapp wurden , konnte die Automobilindustrie rund 1,5 Millionen Autos nicht bauen, und der deutschen Wirtschaft entgingen Dutzende Milliarden Euro Wertschöpfung, obwohl Aufträge dafür vorlagen und die Produktionskapazitäten existierten. Dieses Szenario könnte sich leicht beim Importembargo gegen russische Energie wiederholen. Besonders betroffen von solchen Effekten wären dann die Produktion und Arbeitsplätze in der Chemie-, Stahl- und Autoindustrie.
Damit nicht genug. Die steigenden Öl- und Gaspreise würden zu einem heftigen Inflationsschub führen. Schon heute zeichnet sich ab, dass im laufenden Jahr die Inflation in Deutschland bei mehr als fünf Prozent liegen dürfte. Wenn die Privathaushalte plötzlich mit – im Extremfall – mehreren Hundert Euro an Mehrausgaben für Kraftstoffe, Heizung und Elektrizität im Monat konfrontiert sind, werden die Menschen ihre Ausgaben für andere Dinge einschränken. Dies schwächt die Güternachfrage und beschleunigt den wirtschaftlichen Abschwung.
Sich nicht einlullen lassen
Ähnlich wirkten Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Turbulenzen an den Finanzmärkten aufgrund der Produktionsausfälle: Einkommens- und Vermögensverluste führen zu Konsumzurückhaltung und schwächen weiter die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Diese können zwar durch eine angemessene Reaktion der Geld- und Fiskalpolitik abgefedert, aber bei Weitem nicht ausgeglichen werden. Die Ölkrisen 1974 und 1979/80 haben gezeigt, wie dramatisch plötzliche Energieengpässe entwickelten Volkswirtschaften zusetzen können.
All das bedeutet natürlich nicht, dass man ein Embargo russischer Energieimporte ausschließen muss. Außen- und sicherheitspolitische Erwägungen können zu dem Schluss führen, dass trotz der enormen wirtschaftlichen Kosten ein Embargo sinnvoll ist. Diese Abwägung zu treffen, ist Aufgabe der Politiker. Nur sollten diese sich bewusst sein, welche Kosten mit einem solchen Schritt verbunden wären, und sich nicht von dem Begriff »handhabbar« einlullen lassen.