Trotz Putins Überfall auf die Ukraine Europäer kauften im März mehr Gas aus Russland

Trotz des Krieges sind Europas Erdgasimporte aus Russland laut Berechnungen des Analysehauses ICIS deutlich gestiegen. Hauptverantwortlich dafür sind ausgerechnet die jüngsten Preishochs an den Gasbörsen.
Gasspeicher des Versorgers VNG (Archivbild): Europäische Abnehmer kaufen seit Kriegsbeginn vermehrt russisches Gas ein

Gasspeicher des Versorgers VNG (Archivbild): Europäische Abnehmer kaufen seit Kriegsbeginn vermehrt russisches Gas ein

Foto: Jan Woitas / dpa

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Während die Politik über einen möglichen Gasboykott gegen Russland diskutierte, floss im März mehr russisches Gas nach Europa als zuvor. Laut Berechnungen des Londoner Analysehauses ICIS, die dem SPIEGEL vorliegen, lieferte der staatliche russische Pipelinemonopolist Gazprom im ersten vollen Kriegsmonat mindestens 10,14 Milliarden Kubikmeter Erdgas an Abnehmer in der EU und Großbritannien.

Das war gut ein Viertel mehr als im Februar (8,09 Milliarden) – und sogar 36 Prozent mehr als im Januar (7,43 Milliarden). Die ICIS-Analyse erfasst nicht die Werte für die drei Baltenrepubliken und Finnland; die Importe dieser Staaten sind aber relativ gering und beeinflussen den Trend kaum.

LNG-Importe brechen historische Rekorde

Damit war Russland mit einem Anteil von 23 Prozent der wichtigste Lieferstaat der Europäer, knapp vor Norwegen (10,08 Milliarden Kubikmeter). Noch höher waren die Importe über LNG-Terminals mit 12,93 Milliarden Kubikmetern. Das verflüssigte, tiefgekühlte Erdgas kam laut ICIS zu einem großen Teil aus den USA; es habe aber auch Lieferungen aus einem russischen LNG-Projekt gegeben.

Der drastische Anstieg der Importe aus Russland inmitten des Kriegs offenbart, wie schwer ein europäischer Gasboykott in die Tat umzusetzen wäre. »Um die Ausfälle zu kompensieren, müssten die LNG-Importe nochmals um 7 bis 10 Milliarden Kubikmeter pro Monat gesteigert werden«, sagte ICIS-Chef-Gasstratege Tom Marzec-Manser dem SPIEGEL, »und sie haben zuletzt schon historische Rekorde erreicht.«

So führten die Europäer im Januar 13,76 Milliarden Kubikmeter über die Terminals ein; künftig müssten es monatlich mindestens 20 Milliarden sein. Marzec-Manser hält dies mit der jetzigen Infrastruktur für kaum erreichbar.

Hauptverantwortlich für die höhere Nachfrage nach russischem Brennstoff sind – ausgerechnet – die jüngsten Preissprünge an Europas Gasbörsen. Am 7. März kostete eine Megawattstunde am niederländischen Referenzmarkt TTF bis zu 345 Euro; zurzeit sind es etwa 110 Euro. Üblich waren bis zum vergangenen Jahr 5 bis 40 Euro.

»Die Preise am Spotmarkt waren signifikant höher als die Preise, die Gazprom und seine Kunden in langfristigen Lieferverträgen vereinbart haben«, sagt Marzec-Manser. »Das ist ein Anreiz für die Abnehmer, ihre langfristigen Verträge voll auszuschöpfen.« Oft sei in den Kontrakten neben einer fixen Mindestliefermenge auch eine Option für den Kunden vorgesehen, mehr Gas zum festgelegten Preis zu ordern.

Diese Option haben offenbar viele Abnehmer gezogen. In den beiden ersten Märzwochen, gleich nach dem Beginn der Invasion, schnellten ihre Einkäufe bei Gazprom laut den ICIS-Daten nach oben – auf die höchsten Werte seit Mitte Dezember.

Das russische Gas ließe sich durch höhere Einfuhren aus anderen Staaten nicht voll ersetzen, sagt Marzec-Manser. Norwegen und Aserbaidschan könnten ihre Pipelinelieferungen noch leicht steigern, »und die einzige andere große Quelle ist LNG.«

Pipelines nach Mitteleuropa sind zu klein

Hier aber gibt es schon jetzt Infrastrukturengpässe. So könnte Spanien deutlich mehr LNG importieren. Es hat gleich sechs Flüssigerdgas-Terminals – Deutschlands hingegen kein einziges. Allerdings führen nur zwei relativ kleine Gaspipelines von der iberischen Halbinsel in Richtung Mitteleuropa. Und diese sind laut Marzec-Manser schon jetzt weitestgehend ausgelastet. Viel mehr geht nicht.

Selbst das Ziel der EU, die Einfuhren aus Russland bis Jahresende um zwei Drittel zu verringern, hält der Experte für kaum vereinbar mit der EU-Vorgabe, dass die Gasspeicher der Mitgliedstaaten am 1. November zu mindestens 80 Prozent gefüllt sein müssen. Beides zugleich lässt sich laut Marzec-Manser allenfalls mit sehr hohen Börsenpreisen und/oder einem deutlich verringerten Erdgasverbrauch in Europa erreichen.

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