Rohstoffspekulation Geheime Schattenlager bedrohen den Metallmarkt

Aluminiumbarren (in Russland): Industriemetalle an Orten, die im Dunkeln liegen
Foto: ILYA NAYMUSHIN/ REUTERSDas Metall dieser Welt verschwindet nach und nach im Verborgenen. Banken, Hedgefonds, Rohstoffhändler und andere Marktteilnehmer ziehen Abermillionen Tonnen Aluminium, Kupfer, Nickel und Zink ab und schaffen die Werkstoffe in Geheimverstecke, die auf dem gesamten Globus verteilt sind.
"Schattenlager" nennen Insider die versteckten Depots. Denn diese Magazine entziehen sich dem Zugriff der Branchenwächter. Und die Bestände, die dort schlummern, werden nicht offengelegt. Traditionell werden diese Metalle eigentlich in Hallen verwahrt, die zur London Metal Exchange (LME) gehören. Doch die Schattenlager werden außerhalb des Depotsystems der Rohstoffbörse betrieben. Und diese Schlupfwinkel finden sich überall - in Malaysia genau so wie in den Niederlanden.
Bis Oktober sei eine Rekordmenge von sieben bis zehn Millionen Tonnen Aluminium hinter den hohen Toren dieser obskuren Einrichtungen weggepackt worden, schätzen mehrere Analysten. Der verborgene Metallberg überragt damit die Menge an Aluminium bei weitem, die in Lagerhallen ruht, die von der LME zugelassen sind. In den LME-Depots befanden sich nach dem Stand vom vergangenen Dienstag nämlich nur 5,5 Millionen Tonnen Aluminium, wie die Terminbörse mitteilt. Noch vor zwölf Monaten hatte sich das verwahrte Aluminium in etwa zu gleichen Teilen auf Schattenlager und Hallen der LME verteilt.
Hersteller sind alarmiert
Doch nicht nur Aluminium, auch andere Industriemetalle werden in immer größeren Mengen an Orte verbracht, die im Dunkeln liegen, haben Analysten beobachtet.
Die Hersteller und Abnehmer dieser Werkstoffe sind alarmiert. Sie rüsten sich für mögliche wilde Ausschläge bei den Metallpreisen. Denn für die Marktteilnehmer wird es immer schwieriger, genau vorauszusagen, wie hoch die Metallvorräte eigentlich sind. Da niemand einen genauen Einblick hat, wie viel Metall im Schattensystem lagert, werde die Preisfindung nach Auskunft der Hersteller immer komplizierter.
Dass so viel Metall in undurchsichtigen Depots verschwindet, sorge bereits jetzt für unvorhersehbare Kursbewegungen, klagen Analysten und Händler. Wenn etwa eine große Menge Metall, die niemand auf der Rechnung hatte, plötzlich auf den Markt komme, werde man schnell auf dem falschen Fuß erwischt.
"Das ist ein echtes Problem für jeden in der Branche, dass Metall an einen Standort abgezogen werden kann, der nicht meldepflichtig ist, und kein Erwartungshorizont oder Termin genannt wird, wann es wieder verfügbar sein wird", erläutert Nick Madden. Er ist Senior Vice President von Novelis und im Vorstand der Firma für die Lieferkette zuständig. Novelis stellt in Atlanta Aluminiumprodukte her und gehört weltweit zu den größten Abnehmern des Werkstoffs. "Die Gefahr dabei ist, dass das Metall künftig von immer weniger Akteuren kontrolliert wird, deren Interessen und Geschäftsmodell möglicherweise denen der Endverbraucher entgegenstehen", warnt er.
Industriemetalle für Alltagsgegenstände nötig
Industriemetalle werden für alle nur erdenklichen Gegenstände des täglichen Gebrauchs benötigt. Aus ihnen werden Aluminiumgetränkedosen hergestellt oder Kupferdrähte in Kühlschränken und verzinkte Stahlabdeckungen für Hausdächer gefertigt. Kommt es bei den Ausgangsstoffen zu Preisturbulenzen, kann es im Fall eines kräftigen Anstiegs teurer werden, diese Alltagsgüter zu produzieren. Fallen die Preise aber unter ihre Herstellungskosten, kann dies wiederum bei den Minen oder Hütten zu einer Produktionsminderung führen.
Und eben weil diesem Schattensystem die Transparenz fehlt, wird es für jene Marktteilnehmer immer attraktiver, die Profit aus Informationen schlagen wollen, über die andere Käufer und Verkäufer nicht verfügen. Einige Unternehmen wollten mit Hilfe der geheimen Lager auch nur Geld sparen und eine billigere Alternative zu den LME-Depots nutzen, die im Vergleich zur nicht regulierten Verwahrung zehn Mal mehr kosten können, berichten Analysten und Händler.
Allerdings müssten sich die Metallbesitzer darauf einstellen, dass ihnen Banken höhere Zinsen abverlangen, wenn sie Metall, das in Schattenlagern gebunkert ist, als Sicherheit für Kredite heranziehen wollen. Denn nach Einschätzung der Banken sind die Lagerhallen des LME-Systems weniger riskant, erklären Analysten.
Zu diesem System gehören 778 Depots, die von der LME zugelassen sind. Drei Viertel dieser Lagerhallen werden von fünf Unternehmen betrieben. Und alle fünf Betreiber unterhielten gleichzeitig auch Schattenlager, berichten mit den Unternehmen Vertraute.
Durch Maschendrahtzaun von Geheimvorräten getrennt
In einigen Fällen verwaltet eine einzige Firma lizenzierte und nicht lizenzierte Lager in ein und demselben Gebäude. Das Metall, das die LME erfasst hat, wird dort nur durch einen Maschendrahtzaun von den Geheimvorräten getrennt, erzählt David Wilson, ein Rohstoffanalyst der Citigroup.
Bis 2010 lagen die meisten Depots in der Hand von Logistikfirmen wie der niederländischen C. Steinweg Group. Doch als Metallfinanzierungsgeschäfte sich immer größerer Beliebtheit erfreuten, schlossen sich Unternehmensbereiche von Banken wie Goldman Sachs Group und J.P. Morgan Chase & Co den Logistikern an. Auch Rohstoffhändler wie die britisch-schweizerische Glencore Xstrata und die niederländische Trafigura Beheer witterten hier plötzlich Geschäftschancen. Alle fünf Unternehmen lehnten eine Stellungnahme ab.
Metallverarbeiter wie Novelis fürchten sich nun vor dramatischen Preisschüben, wenn die Lagerhausbesitzer große Metallmengen aufkauften und so für eine Verknappung des Materials sorgten.
Alcoa, der größte Aluminiumproduzent der USA, hegt ganz andere Bedenken. Der Konzern sorgt sich darum, dass die Aluminiumpreise anfällig für einen Preisschock werden, wenn eine große Menge Metall plötzlich von den Schattenlagern in LME-Einrichtungen zurückverlagert würden, führt Tim Reyes aus, der als Präsident bei Alcoa für die Materialwirtschaft zuständig ist. "Wenn eines schönen Tages zwei Millionen Tonnen Aluminium auftauchen, und das ginge nur von einer Tasche in eine andere, dann hat dies einen Einfluss auf den Preis, den es nicht haben sollte. Und das bereitet uns Kopfzerbrechen", sagt Reyes. Derartige Preisschwankungen erschwerten die Erstellung von Produktionsplänen, fügt er hinzu.
Neue Richtlinien abgesegnet
Im November hat die LME zudem neue Richtlinien abgesegnet, um gegen lange Warteschlangen bei ihren Depots vorzugehen. Und deswegen fürchten viele Metallkäufer und Produzenten jetzt, dass noch mehr Metall noch schneller in verborgenen Winkeln verstaut wird. Ab dem 1. April kommenden Jahres müssen nämlich LME-Häuser mit Wartezeiten von mehr als fünfzig Tagen mehr Metall ausliefern, als sie hereinnehmen. Das Halten von Beständen war bisher profitabel: Die Verzögerungen bei der Auslieferung tragen dazu bei, die Mieteinnahmen zu erhöhen und bei schnellerer Abwicklung werden höhere Gebühren in Rechnung gestellt. Nach der Regeländerung dürften die Lagerhausbesitzer nun im Frühjahr dazu übergehen, die LME-Mietpreise zu erhöhen, um Gewinneinbrüche auszugleichen.
Die Regeländerung trifft ein Geschäft, das seit 2010 kräftig zugelegt hat. Dabei kaufen Investoren das physische Metall billig ein und verkaufen einen Terminkontrakt darauf an der LME zu einem höheren Preis. Bis der Terminkontrakt ausläuft, wird das Metall in einem LME-Depot verwahrt. Höhere Lagerkosten führen natürlich dazu, dass diese Transaktion weniger abwirft.
Im Schnitt rund 5,3 Millionen Tonnen Aluminium
In Lagerhallen, die von der LME zugelassen sind, werden derzeit im Schnitt rund 5,3 Millionen Tonnen Aluminium verwahrt. Das entspricht in etwa sieben Prozent der jährlichen weltweiten Nachfrage. Würden die Regeln schon heute zur Anwendung kommen, spülte das Unmengen von Aluminium aus den LME-Depots auf den Markt. Gleiches gilt für die Betreiber von Kupfer- und Zinklagern. Auch sie müssten die Auflösung ihrer Bestände beschleunigen.
In einem Bericht vom 7. November verwies die Rohstoffbörse selbst auf eine der möglichen unerwünschten Nebenwirkungen ihrer Richtlinienänderung. Sie warnt davor, dass mehr Metall in den Schattenlagern enden könnte. Doch die Börse habe die Pflicht, einen fairen und geordneten Markt zu gewährleisten. Und die Lagerengpässe hätten eine Reihe von Problemen hinsichtlich der Preisfindung aufgeworfen, schreibt die LME in einer Erklärung. Die Regeländerungen seien nach einem Beratungsprozess vorgenommen worden, bei dem alle vorgebrachten Bedenken über die möglichen, unbeabsichtigten Folgen jedweder Änderungen geprüft worden seien, heißt es darin weiter.
"Wir sind überzeugt, dass das Maßnahmenpaket, das in dem Vorschlag enthalten ist, alles in allem die beste Lösung für alle Marktnutzer ist", teilt die Börse abschließend mit.
Originalartikel auf "Wall Street Journal Deutschland"