BAHN Schienen schlachten
Die deutsch-französische Bummelbahn wurde vor zwei Wochen mit viel Pomp und Prominenz eingeweiht. Politiker hielten feierliche Reden, historische Sonderzüge dampften von Neustadt an der Weinstraße ins elsässische Wissembourg.
Mehr als 20 Jahre lang lag die Strecke still, seit Anfang März rollen die Personenzüge wieder. Sie seien, lobte Klaus Daubertshäuser, Nahverkehrschef der Deutschen Bahn AG, ein lebendiges Beispiel dafür, wie die europäischen Regionen zusammenwachsen.
Vielleicht auch nicht. Denn die frisch eingeweihte Grenzlinie müßte eigentlich gleich wieder ausgemustert werden. Sie gehört zu jenen 700 Strecken, die, so eine interne Vorstandsvorlage, aus Sicht der Bahn unrentabel sind.
Rund 11 700 Kilometer Gleisstrecken würde der Staatsbetrieb gern abstoßen, so ist in den vertraulichen Papieren zu lesen, mehr als ein Viertel des gesamten Netzes. Sie seien auf Dauer wirtschaftlich nicht zu betreiben.
Fast 5ooo Kilometer dieses Netzes gelten als echte »Schwachlaststrecken«, die als erste vor der Ausmusterung stehen. Lassen sich keine privaten Betreiber finden, die diese Gleise übernehmen, droht die Stillegung.
Seit der SPIEGEL (9/1997) die Pläne publik gemacht hat, gibt es heftige Proteste. Die Koalition wolle die Bahn »schamlos ausplündern«, argwöhnten Sozialdemokraten. Übrig bliebe eine »Spielzeugbahn für die Herren der S-Klasse«, attestierte die PDS in einer hitzigen Debatte im Bundestag.
Gewiß führen manche abrißgefährdeten Nebenstrecken über bröckelnde Schwellen ins Nirgendwo, etwa von Salzwedel in ein Nest in Sachsen-Anhalt namens Diesdorf. Viele Gleise im Osten rosten seit Jahren, sie müssen wirklich abgebaut werden.
Zur Disposition stehen jetzt aber auch wichtige Linien, die mehr als hundert Kilometer lang sind wie die Bäderbahn der Sylt-Urlauber zwischen Itzehoe und Niebüll oder die Werrabahn entlang des Thüringer Waldes. Über viele Strecken rollen derzeit hundert Züge und mehr in beiden Richtungen, etwa zwischen Bünde und Osnabrück oder zwischen Cottbus und Guben.
Tatsächlich offenbart das politische Gezerre um die Bahngleise mehr als nur einen Streit um Ideologien. Es ist ein Zank ums Geld zwischen Bund, Ländern und der Bahn. Mit der Bahnreform wurde der defizitäre Behördenbetrieb 1994 in eine schuldenfreie Aktiengesellschaft umgebaut. Sie ist nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet, sondern soll Gewinne einfahren.
Wer Leistungen bei der Bahn ordert, muß diese bezahlen. Abgerechnet wird nach sogenannten Trassenpreisen. Für den Personennahverkehr sind seit dem vergangenen Jahr die Länder zuständig. Das Geld für ihre Bestellungen, in diesem Jahr rund zwölf Milliarden Mark, stiftet der Bund. Die Bonner wissen jedoch, daß einige Länder davon reichlich Mittel abzwacken, um Löcher im eigenen Haushalt zu stopfen.
Die Länder wiederum meinen, daß die Bahn sie beschummelt. Für den Nahverkehr, so ihr Verdacht, würden sie viel zu hohe Trassenpreise zahlen, über die dann andere Bahnsparten alimentiert werden, beispielsweise der dahinsiechende Güterverkehr, neuerdings DB Cargo genannt.
Die Eisenbahner schließlich verweisen auf Bonn. Nach der Verfassung nämlich muß der Eigentümer zum Wohl der Nation für den »Ausbau und Erhalt« des Netzes sorgen. Drückt aber der Bund immer mehr teure Hochgeschwindigkeitstrecken durch - und dazu etwa noch den Transrapid -, dann steigen zwangsläufig die Kosten für den Fahrweg und damit die Preise.
Das Dilemma ist bekannt. Bahnchef Heinz Dürr fordert seit langem, daß die Kosten für die Trassen halbiert werden müßten. In dieser Not haben seine Beamten einen uralten Plan aus dem Jahr 1975 ausgegraben. Damals wurde das »betriebswirtschaftlich optimale Netz« erfunden, kurz BON genannt. Das Schienennetz sollte rigoros abgebaut werden, doch BON war in Bonn nicht durchsetzbar.
Das wird jetzt kaum anders sein. Es ist kaum vorstellbar, in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern rund zwei Drittel der Gleise abzureißen (siehe Grafik).
Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) bezweifelt zudem, daß die Bahn sauber kalkuliert hat. Die Strecken werden, so die GdED, »totgerechnet«. Die Eisenbahner unterstellen nämlich, daß sie ein Viertel der Kosten einsparen, wenn sie ein Viertel der Gleise abstoßen. Doch die Rechnung geht nicht auf. So werden hohe Kosten für die Gleispflege auch für die Zukunft angenommen, bei Nebenstrecken beispielsweise 75 000 Mark jährlich für jeden Kilometer. Dagegen stellen die Eisenbahner lediglich jene Erlöse, die direkt auf der Strecke anfallen. Vergessen wird dabei, daß regionale Strecken oft nur Zubringer sind, viele Kunden reisen auf Hauptstrecken weiter.
So gerechnet taucht auch die Strecke von Offenburg nach Singen als unrentabel in der Vorstandsvorlage auf. Die zwei Gleise sind 149 Kilometer lang, auch elektrifiziert, 160 Züge rollen täglich über die Strecke. Rund 27 Millionen Mark nimmt die Bahn ein. Rein theoretisch reicht das nicht. Die Kosten liegen nach Bahnangabe über 31 Millionen Mark.
Häufig wird die Unwirtschaftlichkeit auch mit hohen Investitionen begründet. In die Strecke von Eisenach nach Eisfeld müsse die Bahn mehr als 70 Millionen Mark investieren, zwischen Itzehoe und Niebüll gar über 300 Millionen, heißt es. Solche Ausgaben würden nicht lohnen.
Die Stilleger der Bahn schneiden sogar tief in ihr ureigenstes Leistungsnetz. Strecken wie die von Bad Segeberg nach Bad Oldesloe oder von Buchholz nach Walsrode waren bisher als Hauptstrecken für den Güterverkehr, das Netz 21, eingeplant. Nun stehen sie auf der Streichliste.
Würden solche Verbindungen abgeschafft, selbst zwischen scheinbar unwichtigen Orten wie Flieden und Gemünden in Osthessen, wären die geplanten Hauptstrecken völlig sinnlos.
Das hat mittlerweile auch der Bahnchef erkannt. Derzeit gehe es nur um den Abbau von 400 Kilometer Strecke, wiegelt Dürr ab, an denen kein Mensch lebe und die man längst abklemmen könnte.
Das rund 40 000 Kilometer lange Netz, so Dürrs gewandelte Einsichten, sei doch »der größte Aktivposten«.
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Stillegungspläne der Bahn
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