Selbstmord-PR Verdi lässt Jugendliche sterben

Junge Menschen stecken sich einen Revolver in den Mund und schneiden sich die Pulsadern auf - der neue Werbeclip der Verdi-Jugend ist an Brutalität kaum zu überbieten. Der Bundesjugendsekretär will damit auf den katastrophalen Lehrstellenmarkt aufmerksam machen: "Krasse Situationen erfordern krasse Maßnahmen."
Von Hendrik Ankenbrand

Berlin - Als die "Bild"-Leser unter den rund 1000 Delegierten des Bundeskongresses der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi heute morgen um neun Uhr auf die zweite Seite Deutschlands größten Boulevardblatts blickten, sprangen ihnen die Lettern in der Überschrift geradewegs ins Auge: "Geschmacklos! Gewerkschaft wirbt mit Selbstmord-Teenagern".

Der Vorwurf: Ein Werbeclip der Verdi-Jugend, der seit zwei Tagen auf dem TV-Musiksender Viva zu sehen ist, zeige Szenen, die an einen "brutalen Horrorfilm" erinnerten. In dem Clip will die Verdi-Jugend für eine umlagefinanzierte Ausbildungsplatzabgabe werben - und geht dabei in der Tat ordentlich zur Sache.

Zu aggressiver Punkmetal-Musik sind nacheinander erschütternde Szenen zu sehen: Ein Jugendlicher sitzt im Auto, tritt im Leerlauf kräftig aufs Gas - während durch das Seitenfenster ein Schlauch die Abgase direkt ins Wageninnere bläst. Ein blondes Mädchen in Bluejeans und bauchfreiem Top - die sich auf dem Dachboden auf einen Stuhl steigt - um sich an einem Strick selbst zu erhängen. Ein schwaarzhaariger Junge, der zuerst vor lauter Wut einen Papierkorb umtritt, und sich wenig später einen Revolverlauf in den Mund steckt. Vorher der kurze Schnitt auf die Antwort seiner Bewerbung auf einen Ausbildungsplatz: abgelehnt.

Dann die Szene, deren Inhalt die "Bild" als "unendlich schlechten Geschmack" geißelt: Nachdem auch sie einen letzten Blick auf die Lehrstellenabsage eines Arbeitgebers geworfen hat, greift ein braunhaariges Mädchen zur silberblitzenden Rasierklinge. Schnitt: das blutgetränkte Waschbecken.

"Stand up an fight" dröhnt während der Szenen aus dem Lautsprecher, bis zur Schlusssequenz: "Berlin: Nach offiziellen Angaben fehlen zurzeit in Deutschland mehr als 150.000 Ausbildungsplätze", ertönt eine ungerührte Nachrichtensprecherstimme. Dann erscheinen die Slogans der neuen Verdi-Kampagne: "Jugend braucht Zukunft. Jugend braucht Ausbildungsplätze".

Starker Tobak.

"Wir wollten mit dem Clip starke Reaktionen hervorrufen", sagt Torsten Tenbieg, Bundesjungendsekretär der Verdi-Jugend und verantwortlich für die Werbung, gegenüber SPIEGEL ONLINE. Das ist ihm wahrlich gelungen: Seit heute morgen klingelt Tenbiegs Handy unaufhörlich, fast jede Zeitung und jeder Sender im Land will wissen, ob Verdi jetzt verrückt geworden sei.

"Krasse Situationen erfordern krasse Maßnahmen", sagt Tenbieg und verweist auf die fehlenden 150.000 Ausbildungsplätze. Man habe bewusst solch heftige Szenen gewählt, um der Forderung nach einer Umlagefinanzierung Ausdruck zu verleihen - und damit die Medien endlich mal wieder über eine Verdi-Kampagne berichten.

Der Clip lief bislang auf "Viva" und "Viva Plus" seit Dienstag täglich nach 23 Uhr - und laut Tenbieg hat Verdi dafür keinen Cent an den Kölner Sender bezahlt. Man habe angefragt, ob Viva die Kampagne unterstützen wolle. Er wollte. Von MTV dagegen habe es keinerlei Reaktionen gegeben.

Am Freitag wurde der Clip dann auf dem Bundeskongress in Berlin sämtlichen Delegierten vorgeführt. "Heftig, aber OK" sei die überwiegende Reaktion der Verdianer gewesen, so Tenbieg, es habe "großen Applaus" für den Film gegeben. Nur vereinzelten Delegierten seien die Szenen dann doch zu heftig gewesen.

Dass es in dem Film in keiner Silbe um die Umlagefinanzierung geht, rechtfertigt der Verdi-Jugendsekretär damit, dass bei sonstigen Präsentationen des Films - etwa bei Jugendveranstaltungen - zusätzliche Flyer verteilt würden, die den Hintergrund der Kampagne erläutern. Allerdings hätte man im Film "ein bisschen mehr" über die Umlagefinanzierung berichten müssen, gibt Tenbieg zu.

Dass die Suizidszenen "logischerweise überzogen" sind, sei aber kein Problem. Schließlich warne der Text in der Hintergrundmusik geradezu vor dem Selbstmord, der keine Lösung für Probleme sei. Tenbieg: "Ich glaube jedem ist klar, dass dies kein Aufruf zum Selbstmord ist".

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren