ARD-Doku über Versicherungen Wenn Tote aus dem Fenster springen

Panorama-Reporter Lütgert: Die Hinterbliebenen sollen die Todesursache beweisen
Foto: ARDHamburg - Ein Mann stürzt vier Meter tief aus einem Fenster auf den Betonboden und stirbt. Die Unfallversicherung Barmenia aber verweigert die Zahlung: Die Witwe und der Sohn sollen beweisen, dass es ein Unfall war und der Mann nicht schon tot war, als er fiel.
Schon das erste Beispiel des Films "Die Nein-Sager" aus der ARD-Reihe "Exclusiv im Ersten" zeigt, wie hart Versicherungen sein können. NDR-Reporter Christoph Lütgert will mit seinem Film aber mehr bewirken: Anhand von drei exemplarischen Beispielen will er beweisen, wie Versicherungskonzerne systematisch nicht zahlen - so jedenfalls formuliert es der Wirtschaftsrechtler Hans-Peter Schwintowski von der Humboldt Universität in Berlin. Zimperlich geht Lütgert dabei nicht vor: "Wenn sich eine Versicherung drücken will, springen Tote eben auch aus dem Fenster", sagt er über den ersten Fall.
Die Barmenia-Versicherung verlangt also einen Beweis, dass der Fenstersturz ein Unfall war. Vorher aber hatte die Versicherung auf eine Obduktion verzichtet, dem Film zufolge "um den Angehörigen diese schwere Belastung zu ersparen". Dabei hatten sowohl Hausarzt als auch der Bestatter darauf gedrängt. Jetzt ist es dafür zu spät, der Tote ist eingeäschert worden.
Am vergangenen Donnerstag gab das Landgericht Wuppertal der Barmenia recht: Die Hinterbliebenen müssten beweisen, dass es sich bei dem Sturz um einen Unfall handelte. Hier zeigt sich die ganze Tragik eines Streits mit einem Konzern: Viele erstinstanzliche Urteile fallen im Sinne der Versicherungen aus. Dass sich die Witwe und der Sohn des Toten den Gang in die nächste Instanz leisten können, ist kaum anzunehmen, denn die Prozesskosten hängen vom Streitwert ab - in diesem Fall geht es um mehrere Zehntausend Euro. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE teilt die Barmenia lediglich mit, das Gericht habe "festgestellt, dass kein Versicherungsfall vorliegt. Deshalb wurde die Klage abgewiesen."
Dreißig Jahre Rechtsstreit enden in einem Vergleich
Die anderen Fälle, die das Team um Lütgert recherchiert hat, betreffen einen deutlich größeren Versicherungskonzern, die Allianz. Anfang der achtziger Jahre wird Dieter Wollenweber auf einer Bundesstraße in seinem Renault frontal von einem anderen Auto getroffen - seither sitzt er im Rollstuhl. Die Schuldfrage ist eindeutig geklärt, doch die Versicherung des Unfallfahrers, die Allianz, weigert sich trotzdem zu zahlen. Dreißig Jahre lang streitet Wollenweber mit dem Konzern, erst dann lässt sich die Allianz auf einen Vergleich ein, der sie übrigens billiger kommt, als ein verlorener Prozess.
Die Allianz gewährte Lütgert für diesen Fall ein Interview, schon vor Monaten. Anlass war ein erster Film über die Versicherungsbranche, der im NDR ausgestrahlt wurde. Der Pressesprecher bestätigt in dem Interview den langen Rechtsstreit und versichert, dass so etwas nicht mehr passieren werde. Die Allianz sei vor 30 Jahren ein kleines bayerisches Unternehmen gewesen, heute ein Weltkonzern. Man habe sich entschuldigt, und heute könne so etwas "nach menschlichem Ermessen nicht mehr passieren".
Lütgert weist genüsslich darauf hin, dass die Allianz schon damals Europas größter Versicherungskonzern war und sich das Unternehmen erst nach der Aufzeichnung des Interviews bei Wollenweber entschuldigte. Nach der ersten Ausstrahlung widersprach die Allianz der weiteren Verwendung der Aufnahmen.
Ein Grund dürfte der dritte Fall sein, den der Film porträtiert. Auch dort streiten die Opfer mit der Allianz, und das schon seit 27 Jahren. Auch hier hat die Versicherung einen Vergleich angeboten, der Ausgang ist aber noch offen. Weitere Interviewanfragen von "Panorama" lehnte die Allianz ab, auch SPIEGEL ONLINE wollte der Konzern keine Stellungnahme geben.
"Die Sache reguliert sich biologisch"
Es sind Einzelfälle, die der Film auflistet, allerdings liefern die ARD-Journalisten einige Zeugen, die die These stützen, dass es sich um Beispiele für ein System handelt: Der Wirtschaftsrechtler Schwintowski schätzt, dass einzelne Versicherungen in bis zu 60 Prozent der Fälle mit berechtigten Ansprüchen die Zahlung ablehnen. Höchstens fünf Prozent der Betroffenen würden dann noch Klage einreichen - für die Konzerne ein sicheres Geschäft.
Unterstützt werden Schwintowski und die These des Films von einer Juristin, die früher sechs Jahre lang für eine Versicherung arbeitete: In zwei Drittel aller Fälle habe sie im Auftrag ihres Arbeitgebers Ansprüche verzögert oder gleich abgelehnt - einfach so, sagt die Anwältin. Wenn einer im Sterben lag, habe es ein geflügeltes Wort in ihrer Versicherung gegeben: "Die Sache reguliert sich biologisch."
Lütgert ist nicht zimperlich in seiner Wortwahl: Deutschlands Versicherungen seien "Geldmaschinen" oder "dein gnadenloser Feind", sie seien "bei kleineren Schäden generös - aber wehe, es geht um Hunderttausende". Der Film zeigt aber auch, wie hilflos sich diejenigen fühlen müssen, die den Konzernen im Streit gegenüberstehen. Eine der Protagonistinnen sagt es so: "Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin einfach nichts."
Exclusiv im Ersten: Die Nein-Sager, Dienstag, 21.45 Uhr, ARD