Sorge um Zwei-Klassen-Gesundheitsversorgung Der Kampf um die Bürgerversicherung

Wartezimmer in Minden
Foto: Maurizio Gambarini/ picture alliance / dpa"Wie sind Sie versichert?" Von der Antwort auf diese Frage hängt einiges ab, nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Als die Grünen dort im April Testanrufe in 405 Facharztpraxen machen ließen, mussten gesetzlich Versicherte im Schnitt 27 Tage länger auf einen Termin warten als Privatpatienten.
Mit solchen Ungleichbehandlungen müsse Schluss sein, fordert die SPD. Zu einer Kernforderung für Koalitionsgespräche mit der Union hat sie die sogenannte Bürgerversicherung erklärt. Das bisherige System bedeute "eine direkte Einladung, Privatpatienten zu bevorzugen", sagte Gesundheitsexperte Karl Lauterbach dem SPIEGEL.
Einen Großteil der Bevölkerung hätten die Sozialdemokraten wohl auf ihrer Seite, in Umfragen sprechen sich regelmäßig deutliche Mehrheiten für eine Bürgerversicherung aus. Doch da ist noch der potenzielle Koalitionspartner. "Die Einführung einer sogenannten Bürgerversicherung lehnen wir ab", heißt es im Unions-Wahlprogramm. "So wird das nichts", warnte auf Twitter Ex-Gesundheitspolitiker Jens Spahn (CDU), mit dem Lauterbach bereits 2013 vergeblich über eine Bürgerversicherung verhandelt hatte.
Und nicht nur von der Union kommt Gegenwind. Nachdem Lauterbach die Bürgerversicherung zu einem zentralen Anliegen möglicher Koalitionsgespräche erklärt hatte, liefen deutsche Ärztevertreter Sturm: Erst eine Bürgerversicherung bedeute den "Turbolader in die Zwei-Klassen-Medizin", behauptete Bundesärztekammer-Präsident Frank-Ulrich Montgomery.
Wird die Bürgerversicherung also zum nächsten Spaltpilz zwischen Union und SPD, deren mögliche Koalitionsgespräche schon jetzt von Eklats um einsame Entscheidungen bei Glyphosat und Europäischer Bankenaufsicht überschattet werden? Oder könnte die SPD ihre Forderung trotz des Widerstands durchsetzen?
Die meisten haben schon heute keine Wahl
Es gibt zur Bürgerversicherung verschiedene Konzepte, die sich zum Teil stark unterscheiden. Auf jeden Fall würde sie aber bedeuten: Wer sich künftig krankenversichern will, kann das nur noch in einem einheitlichen System tun.
Die große Mehrheit der Deutschen hat freilich schon heute keine Wahl - wer abhängig beschäftigt ist und weniger als 4350 Euro im Monat verdient, landet zwangsläufig in der gesetzlichen Krankenversicherung. Angestellte mit höherem Einkommen können hingegen entscheiden, ob sie sich lieber privat versichern - ebenso wie Selbstständige, Beamte und Abgeordnete. Diese Wahl fiele künftig weg.
Das würde zu einer einheitlichen Honorarordnung führen. Bislang erhält ein Arzt für einen Kassenpatienten nach einem komplizierten System Geld - und weiß erst im Nachhinein, wie viel genau. Für privat Versicherte kann er nach der Gebührenordnung für Ärzte abrechnen, was in der Regel nicht nur wesentlich höhere Einnahmen bedeutet, sondern auch Planungssicherheit. "In zwei Stunden mit Privatpatienten verdient ein Arzt in etwa so viel wie in fünf Stunden mit gesetzlich Versicherten", kritisiert SPD-Mann Lauterbach.
Bei Bürgerversicherten erhielten Ärzte, Krankenhäuser oder Apotheker dagegen für die gleiche Leistung das gleiche Geld. Damit fielen Anreize weg, Patienten bei Terminvergabe oder Behandlungsmethode zu bevorzugen, ihnen aber auch möglicherweise überflüssige oder sogar schädliche Behandlungen zu empfehlen. "Dass es ein Anreizproblem gibt, würde ich sofort unterschreiben", sagt auch der CDU-Gesundheitsexperte Michael Hennrich.
Schreckgespenst Großbritannien
Allerdings wäre der Übergang zu Bürgerversicherung schleichend: Alle bisherigen Privatpatienten in die Bürgerversicherung zu zwingen, dürfte schon rechtlich nicht möglich sein. Für sie würde es wohl noch jahrzehntelang Privatpatienten und eine eigene Gebührenordnung geben.
Ganz abgeschafft würde die Zwei-Klassen-Medizin ohnehin nicht: Denn Zusatzversicherungen bieten auch gesetzliche Kassen an. Wer sie sich leisten kann, könnte auch in Zukunft Privilegien wie Chefarzt-Behandlung, Einzelzimmer oder teuren Zahnersatz genießen. Vor diesem Hintergrund warnte Ärztekammerpräsident Montgomery vor ähnlichen Zuständen wie in Großbritannien, dessen aus Steuermitteln finanziertes Gesundheitssystem NHS immer wieder in der Kritik steht.
"Das ist Unsinn", entgegnet Lauterbach. "Das britische Gesundheitssystem ist eine Katastrophe, weil es komplett unterfinanziert ist." Auf der Insel gebe es zu wenig Ärzte und Kliniken: "Wir haben dagegen die höchste Dichte an Kliniken und Fachärzten in Europa, daran würde sich auch nichts ändern." Die Gesamtsumme der Honorare für Ärzte wolle man nicht kürzen, sondern sie nur anders verteilen.
Aber zwingt der Wettbewerb durch Private die gesetzlichen Anbieter bisher nicht auch zu besseren Angeboten? "Alle innovativen Verfahren die es gibt, sind auch bei gesetzlich Versicherten im Einsatz", sagt Lauterbach. Wer allerdings am falschen Ort wohne, komme heute nicht in ihren Genuss - weil sich Spezialisten bevorzugt in Gegenden mit vielen Privatpatienten ansiedeln. Nach Ansicht des SPD-Mannes würde der Innovationsdruck mit einer Bürgerversicherung sogar steigen - weil dann auch die Entscheidungsträger mit im Boot säßen. "Richter, Professoren, Staatssekretäre - wir sind ja alle privat versichert und von den Entscheidungen, die wir treffen, bislang nicht betroffen."
Vereinheitlicht würden die Regeln auch bei den Beiträgen. Sie würden sich allein nach dem Einkommen der Versicherten richten - und nicht nach ihrem Alter und Gesundheitszustand, wie derzeit in der privaten Krankenversicherung. Für Jüngere wäre eine Bürgerversicherung damit eher teurer als eine private Versicherung, für Ältere eher günstiger. Profitieren dürften in jedem Fall Selbstständige mit kleinen Einkommen, die derzeit unter einem Mindestbeitrag von knapp 400 Euro im Monat in der privaten Versicherung leiden.
Steigen oder fallen die Beiträge?
Ob eine Bürgerversicherung höhere oder niedrigere Beitragssätze als die jetzigen gesetzlichen Krankenkassen nehmen würde, ist offen. Die Bertelsmann-Stiftung kam zu dem Schluss, dass sowohl die Aufnahme von Beamten als auch die von Selbstständigen nicht zu höheren Beiträgen führen würden und die Staatskassen sogar entlasten könnte. Doch ob es wirklich so kommt, hängt auch von der konkreten Ausgestaltung einer Bürgerversicherung ab.
Fällt etwa auch die Beitragsbemessungsgrenze - also der Höchstbetrag, bis zu dem sich die Krankenkassenbeiträge am Gehalt orientieren? Werden Beiträge nur auf Arbeitseinkommen erhoben oder auch auf Zinsen, Mieten und Dividenden? Dürfen alle Privatversicherten in die Bürgerversicherung wechseln - auch jene in hohem Alter mit dementsprechend hohen Beiträgen?
Die SPD hat im Wahlkampf ein eher moderates Konzept vertreten. Demnach würde die Beitragsbemessungsgrenze beibehalten, Kapitalerträge blieben weiterhin beitragsfrei. Damit ist man der Union zumindest näher als die Linke, die einen Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze und Beiträge auf alle Einkommensarten fordert.
Auch auf Unions-Seite gibt es Verhandlungsbereitschaft. CDU-Experte Hennrich ist zwar gegen eine Bürgerversicherung, befürwortet aber zumindest eine einheitliche Honorarordnung. "Das könnte viele Probleme lösen, die wir heute haben", sagt er. Allerdings reiche es nicht, einfach die bisherigen Vergütungsregeln für private oder gesetzliche Patienten auszuweiten. Notwendig sei vielmehr ein "insgesamt neues System".
Sollte dieses System am Ende nicht Bürgerversicherung heißen, wäre der Triumph für die SPD ziemlich eingeschränkt. Doch auch Lauterbach gibt sich nach den Auseinandersetzungen der letzten Tage zurückhaltend. Die Bürgerversicherung sei eine von mehreren SPD-Forderungen für mehr Gerechtigkeit, sagt er. "Bedingungen sollte zum jetzigen Zeitpunkt niemand stellen." Schließlich sei eine Jamaika-Koalition "auch daran gescheitert, dass man öffentlich über Kompromisslinien diskutiert hat".