
Fahrradhauptstadt Peking: Die Bambus-Biker
Fahrradhauptstadt Peking Die Bambus-Biker
Es sind Augenblicke wie dieser, da weiß Claudio Rebuzzi: Er hat alles richtig gemacht. Alle Mühen, all der Aufwand und das Risiko waren es wert.
Später Nachmittag, es klopft an der Tür. Rebuzzi, Mitinhaber der wohl außergewöhnlichsten Fahrradwerkstatt Pekings, springt auf und begrüßt den Besucher: Kelvin He, Anfang dreißig, Student, möchte ein Rad abholen. Sein Bambusrad.

Markus Wanzeck, Jahrgang 1979, ist Reporter und Redakteur bei Zeitenspiegel Reportagen und Chef vom Dienst bei "natur". Daneben schreibt er u.a. für "Reportagen", "bild der wissenschaft" und "enorm". Er ist Vorsitzender des Deutsch-Chinesischen Mediennetzwerks e.V.Deutsch-Chinesisches Mediennetzwerk e.V.
Den Rahmen hat Kelvin He vor zwei Wochen selbst gebaut. Inzwischen hat Rebuzzi für seinen Kunden die Räder, den Sattel und den Lenker montiert.
Zeit für eine Probefahrt. Kelvin He steigt auf, tritt in die Pedale und verschwindet im Gassengewirr der Pekinger Hutongs. Als er von seiner Jungfernfahrt zurückkehrt, trägt er ein seliges Grinsen im Gesicht - wie nach einer adrenalinreichen Achterbahnfahrt. Alles super, sagt er. Nur die Bremsen: irgendwie komisch. Rebuzzi, akkurat gestutzter Vollbart, Kapuzenpulli und Wollmütze, sitzt selbst auf. Kurzer Check, alles klar. Ruckeln sich ein, die Bremsen, sagt er mit Kennerblick.

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"Heutzutage kauft man ja alles", sagt er. "Das einzige, was die Leute noch selbst zusammenbauen, sind Ikea-Regale." Stolz streicht er über ein Gefährt. "Das hier habe ich ganz allein gemacht."
Ikea, das ist simulierte Individualität. Heute gleichen sich die Wohnzimmer der Welt wie die grauen Mao-Anzüge, die in China einst die Massen trugen. Ein Bambusrad hingegen ist ein Unikat. Keines der Räder ist wie das andere. Nicht in der Form. Nicht in der Farbe. Nicht im Gewicht. Eineinhalb bis zwei Kilogramm wiegt ein Rahmen aus Bambusrohr, zehn bis elf Kilogramm das komplette Rad. "So leicht wie Aluminium", sagt Rebuzzi. "Und was die Dämpfung angeht, können es unsere Räder locker mit Stahl aufnehmen."
Der wichtigste Rohstoff dieser Wundervelos wächst in der Provinz Zhejiang, südlich von Shanghai: Phyllostachys reticulata - der Große Holzbambus. Lässt sich leicht verarbeiten. Ein durchschnittlicher Werkzeugkasten ist alles, was man dazu braucht.
Und ein bisschen Platz, wirklich nur ein bisschen. Kaum länger als eine Autogarage ist die Werkstatt von Bamboo Bicycles Beijing - und auch nicht viel breiter. Um sich darin überhaupt bewegen zu können, schafft Claudio Rebuzzi, 29, jeden Morgen zuerst die schon fertig montierten Fahrräder hinaus auf die Straße. Endlich Platz, um sich ein wenig zu bewegen. Um das Rad vielleicht nicht neu zu erfinden, aber es doch zumindest wiederzubeleben.
Leben in China: "Ohne Wohnung und ohne Auto keine Frau"
Denn das Fahrrad ist eine aussterbende Spezies in Peking, jener Metropole, die einst als Fahrradhauptstadt der Welt bekannt war. Vor 30 Jahren glichen ihre Straßen einem breiten, endlosen Fluss aus Fahrradfahrern. Heute steht die Stadt im Stau. Stoßstange an Stoßstange, rund sechs Millionen Autos, notorischer Smog.
Eigentlich spricht wenig dafür, sich hier ein Auto zuzulegen. "Doch junge chinesische Männer haben zwei große Wünsche", erklärt Rebuzzi: "Eine eigene Wohnung. Und ein eigenes Auto." Wobei das nur Zwischenwünsche sind. "Ohne Wohnung und ohne Auto keine Frau." So sei das in China.
Bamboo Bicycles Beijing, kurz BBB, ist ein kleiner Gegenentwurf zu den großen Gestaltungskräften, die Peking zu dem gemacht haben, was es heute ist - und die die Fahrräder auf den Randstreifen der Geschichte drängten, wo sie vor sich hin rosteten. Es waren jene Überreste des Radzeitalters, die das Projekt BBB zum Leben erweckten: ausrangierte Räder, die auf den Gehsteigen und in den Gassen standen, verlassen, verstaubt, verendet.
David Chin-Fei Wang, ein junger chinesischstämmiger Amerikaner, der seit einigen Jahren in Peking lebte, sammelte sie ein - und setzte sie neu zusammen, zu fahrtüchtigen Bikes.
Einmal, als Wang ein Alu-Gerippe mit besonders dickem Radgestänge aufsammelte, drängte sich ihm ein naheliegender Vergleich auf: Wie ähnlich diese Rohre doch dem Bambus vor dem benachbarten Tempel sahen! Warum also nicht ein Fahrrad aus Bambus bauen?
Ja, warum eigentlich nicht? Bald darauf strampelte Wang auf seinem ersten selbst gebastelten Bambusrad durch Peking.
Der studierte Meeresbiologe arbeitete monatelang im Fahrradladen
Und er wollte, was er ersonnen hatte, mit möglichst vielen teilen. Seine Idee: Bambusrad-Workshops, in denen die Teilnehmer ihre Räder selbst bauen. Wang suchte und fand Mitstreiter. Im April 2014 stellte das Grüppchen die BBB-Idee auf einer Crowdfunding-Plattform im Internet vor. Keine drei Wochen später war die selbst gesetzte Hürde genommen: 112 Unterstützer hatten 15.000 US-Dollar spendiert - für die Ausstattung einer Werkstatt und das Material der ersten 25 Bambusräder.
An einer der BBB-Werkbänke steht Rebuzzis Kollege Luo Mingning, 23, den sie alle nur Mowgli nennen, seit er die Haare mal schulterlang trug wie die Hauptfigur in Disneys Dschungelbuch-Zeichentrickfilm. Bevor Mowgli zu BBB kam, hatte er Ozeanologie studiert. "War interessant", sagt er. "Aber nicht sooo interessant." Zu theoretisch. Eine Uni-Laufbahn? Unvorstellbar. Nach seinem Abschluss jobbte er, kreuz und quer. Länger als ein, zwei Monate hielt er es nirgends aus. "Es gibt so viele langweilige Jobs da draußen", sagt er. Eines Tages stand er in einem Fahrradladen. Fragte spontan, ob er mal ein paar Tage mitarbeiten dürfe. Er durfte. Von zehn Uhr früh bis zehn Uhr spät reparierte er Drahtesel. Er, der studierte Meeresbiologe. "Die Tage waren lang, die Bezahlung mies", sagt Mowgli. "Es war wunderbar."
Ein Monat verging, noch einer, ein halbes Jahr. Mowgli dachte, zum ersten Mal: Das ist ein Job, mit dem es sich leben lasst. Er hatte es wohl noch viele weitere Monate in dem Fahrradladen ausgehalten - hätte nicht Ende 2014 David Chin-Fei Wang den Laden betreten, der Hilfe brauchte. Beim Bambusradbauen.
Zwei Tage dauert es, bis ein Bambusrohrrahmen fertiggestellt ist
Im April 2017 feiert die Pekinger Bambusrad-Manufaktur ihren dritten Geburtstag. Zwischenbilanz: mehr als 400 Räder. Viele Dutzend Workshops in Peking, dazu Partnerprojekte in Shanghai, Hongkong, Guangzhou. Auch in Laos und in den USA. Die Pekinger Workshop-Teilnehmer sind, fifty-fifty, schätzt Rebuzzi, Einheimische und laowai - Ausländer also, wie er selbst.
2014 war Rebuzzi seiner Freundin aus Südafrika nach Peking gefolgt. Er schrieb damals für ein Fahrradmagazin. Als er von BBB hörte, verabredete er sich mit David Chin-Fei Wang. Klang nach einer guten Geschichte für sein Magazin. Doch der Artikel erschien nie. Statt über Bamboo Bicycles Beijing zu schreiben, wurde Rebuzzi Teil des Teams.
"Wenn die Leute zum ersten Mal ein Bambusrad sehen", erzählt er, "können sie es gar nicht fassen: dass es tatsächlich nur aus Bambus ist." So fragil sieht es aus. So stabil ist es. Zwei Tage dauert es, bis ein Bambusrohrrahmen fertiggestellt ist. Allein das Schleifen und Schmirgeln des Leims kann zehn Stunden dauern, sagt Claudio Rebuzzi. "Aber hey, es geht auch problemlos länger." Er zeigt auf einen Rahmen, bei dem die geleimten Stellen so glatt sind wie ein Babypopo. "30 Stunden", raunt er. "Hab Hanf- statt Karbonfaser genommen. Hübsch, aber ein elendes Gefummel."
Rebuzzi greift nach dem Rahmen, reicht ihn herüber, ganz sachte. "Ich liebe dieses Rad", sagt er. Wieder eine Pause. Dreißig. Stunden. Schleifen. Liebe, sie tut halt manchmal weh.