Stefan Schultz

Ende der materiellen Wirtschaft Angriff der Körperfresser

Stefan Schultz
Ein Essay von Stefan Schultz
Bücher, CDs und Geldnoten sind ebenso große Klimasünder wie Kohlekraftwerke: Sie werden aufwendig produziert und CO2-intensiv um die Welt geschickt. Dabei gibt es digitale Pendants, die genau denselben Zweck erfüllen. Die materielle Wirtschaft muss radikal schrumpfen!
"Körperfresser"-Filmplakat: Konsum frisst Planeten auf

"Körperfresser"-Filmplakat: Konsum frisst Planeten auf

Foto: ddp images

In dem Horrorroman "Die Körperfresser kommen" vertilgen außerirdische Pflanzenparasiten Menschen und ersetzen sie durch emotionslose Doppelgänger. Die düstere Erzählwelt, die mehrfach verfilmt wurde, lässt mehrere Lesarten zu. Eine ist die Umkehr der Machtverhältnisse zwischen Natur und Mensch: Es sind nicht mehr wir, die den Planeten verschlingen - der Planet frisst jetzt uns.

Der Vorwurf, der in Jack Finneys Geschichte aus dem Jahr 1956 mitschwingt, ist heute aktueller denn je. Unser Massenkonsum überfordert die Erde, verzehrt den Planeten. Das Worldwatch Institute, eine der weltweit renommiertesten Forschungsstellen zum Thema Nachhaltigkeit, hat unseren verschwenderischen Lebensstil kürzlich gar als "Klimakiller Nummer eins" verbrämt.

In seinem "Bericht zur Lage der Welt 2010" schreibt das Institut, dass ein durchschnittlicher Europäer 43 Kilogramm Materialien wie Metalle, Lebensmittel oder Öl verbraucht - täglich. Ein Amerikaner bringe es gar auf 88 Kilogramm. Würden alle Erdenbewohner wie US-Bürger leben - der Planet könnte gerade 1,4 Milliarden Leute ernähren. Der Rest der gut sieben Milliarden Menschen auf der Erde müsste verhungern.

Unser ausufernder Konsum ist zudem Raubbau an der Natur. Der Umweltforscher Friedrich Schmidt-Bleek hat ausgerechnet, dass man mehr als 30 Tonnen Material braucht, um eine Tonne Auto herzustellen, und 30.000 bis 40.000 Liter Wasser für ein Kilo rohe Baumwolle. "Viele Alltagsprodukte haben einen gewaltigen Materialbedarf", moniert er. "Wir machen etwas grundsätzlich falsch, wir müssen den Nutzen, den wir aus der Natur ziehen, mit viel weniger Natur schaffen."

Google, Apple, Microsoft: die neuen Körperfresser

Tatsächlich gibt es eine neue, mächtige Wirtschaftselite, die genau diese Ressourceneffizienz fördert: IT-Konzerne wie Google, Apple, Microsoft. Auch sie sind eine Art Körperfresser, allerdings vertilgen sie nicht uns, sondern unsere Industrieprodukte. Und sie fressen den alten Herrschern der Industriegesellschaft ihre Märkte und Margen weg.

Musik ist ein gutes Beispiel dafür: Im 19. Jahrhundert wurde Schall noch mit überdimensionalen Apparaturen auf Zinnfolien und Wachswalzen festgehalten. Später hörte man Songs auf Schallplatten, auf Zelluloid, vulkanisiertem Hartgummi, auf Schellack und ab 1948 schließlich auf Vinyl. Seit 1963 zogen Künstler wie Tschaikowski, Elvis und die Beatles ressourcensparend auf Kassetten um, Anfang der Achtzigerjahre dann auf die CD.

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Fotostrecke: Strategien für eine nachhaltige Konsumgesellschaft

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Seit Mitte der neunziger Jahre setzen sich nun die MP3s als virtuelles Musikformat durch. Apples iTunes-Store machte diese Technologie letztlich massenmarktfähig - zum Leidwesen der Musikindustrie. Denn der Verkauf einzelner MP3s lässt ihre Margen schmelzen. Zudem begünstigt die digitale Vervielfältigung Raubkopien.

In anderen Geschäftsbereichen passiert dasselbe: Der Siegeszug der digitalen Fotografie hat die Herstellung und Entwicklung analoger Filme zerstört; EC-Karten und mobile Bezahldienste lassen Bargeld aus dem Alltag verschwinden. Generell gilt: Das Produkt bleibt, nur seine materielle Form verändert sich. Lebensqualität geht dadurch kaum verloren, im Gegenteil: Die virtuelle Ware ist haltbarer, platzsparender, universell verfügbar - und unschlagbar ressourceneffizient.

Gewaltige Energieersparnis

Zwar braucht man etwa zum Abspielen von MP3s noch Geräte wie iPod oder Laptop. Zwar verbraucht auch der Kauf eines virtuellen Lieds Material und Energie. Zwar wurden die Server des Online-Musikladens material- und energieintensiv produziert und schlucken Strom, und die Kabel, durch die die Daten flitzen, wurden aufwendig verlegt.

Insgesamt aber ist digitale Musik nachhaltiger. Über die einmal geschaffene Infrastruktur werden Billionen Songs verschickt, der Strom, den Rechenzentren, Online-Router und Endgeräte verbrauchen, wird in den kommenden Jahren immer mehr durch erneuerbare Energien gespeist - und die Produktion von Kunststoff-CDs und Plastikhüllen und deren Transport entfallen ganz.

Forscher der Stanford-Universität untersuchten im Sommer 2009 in einer Studie im Auftrag von Microsoft und Intel die Vorteile des Vertriebs virtueller Musik gegenüber dem Verschicken von CDs. Berechnete CO2- und Energieersparnis: 40 bis 80 Prozent. "Das Bewegen digitaler Daten ist stets weniger energieintensiv und umweltschädlich als das Bewegen von Atomen."

Erhebungen der auf CO2-Berechnungen spezialisierten Agentur ClimatePartner kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Demnach lässt sich der CO2-Ausstoß von Zeitungsanzeigen um gut drei Viertel reduzieren, wenn Ansichtsexemplare nicht mehr wie bisher per Post an die Verlage geschickt werden, sondern über ein gemeinsam genutztes Online-Portal. Und Wahlen, die im Internet abgehalten und bei denen die Zugangsdaten per E-Mail verschickt werden, haben gegenüber der klassischen Briefwahl eine CO2-Ersparnis von bis zu 96 Prozent (siehe Grafiken unten).

Die Energieeffizienz lässt sich sogar noch steigern, indem man die Ressourcen jener Apparate, die materielle Waren überflüssig machen, optimal nutzt. Das gilt gerade für Geräte wie Computer oder Smartphones. "Bei den meisten Metallen einschließlich den heute so nützlich gewordenen Hightech-Metallen wie Indium, Gallium, Neodym oder Yttrium geht sehr viel Energie in die Primärproduktion", sagt Ernst von Weizsäcker, Co-Vorsitzender des International Panel for Sustainable Resource Management. "Dennoch ist laut Professor Thomas Graedel von der Yale Universität die Recyclingrate vom Endprodukt her gesehen niedriger als ein Prozent." Da sei noch viel rauszuholen.

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Grafiken: Effekte der Dematerialisierung

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Neben der Entmaterialisierung von Produkten gibt es noch weitere Möglichkeiten, CO2 und Energie einzusparen - zum Beispiel im Vertrieb. Das Start-up Myfab etwa umgeht Großhändler, Zwischenlager und Warenhäuser komplett. Der Kunde ordert seine Sofas und Lampen im Internet und bekommt sie direkt nach Hause geschickt. Die Preise sind dadurch deutlich niedriger als die anderer Möbelhäuser, auch die Umwelt profitiert: Es werden stets nur so viele Waren produziert wie vom Kunden nachgefragt, Transportwege werden deutlich verkürzt.

Allerdings kämpfte das Start-up zuerst mit Kinderkrankheiten. Kunden beschwerten sich bei SPIEGEL ONLINE, ihre Waren seien mit mehreren Wochen Verzögerung geliefert worden. Das Unternehmen entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten, wechselte den Logistiker und gibt an, die Probleme seitdem behoben zu haben. Insgesamt zeigt Myfab aber ein Geschäftsmodell der Zukunft: Produkte werden billiger, Vertriebswege nachhaltiger - und viele Stufen der gängigen Wertschöpfungskette überflüssig.

Wie die Konsumgesellschaft nachhaltig wird

Generell gilt also: Anders als in Finneys düsterer Erzählwelt sind die Körperfresser in der Informationsgesellschaft die Guten. Sie zwingen überkommene Industrien zu jener Nachhaltigkeit, die unsere Wirtschaft so dringend braucht. Es ist besser, dass IT-Riesen sich in klassische Märkte fressen, als dass unser Konsum den Planeten verzehrt.

Der amerikanische Erfinder Saul Griffith nennt Nachhaltigkeit deshalb auch "die größte Energiequelle, die wir kennen". Seinen Berechnungen zufolge müssten wir in den kommenden 25 Jahren weltweit erneuerbare Energiequellen mit einer Leistung von 11,5 Terawatt aufbauen , um die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen (siehe Video links).

Um das zu erreichen, müssten wir 25 Jahre lang jede Sekunde 100 Quadratmeter Photovoltaikzellen und 50 Quadratmeter solarthermische Spiegel verlegen, jede Stunde zwölf Windturbinen mit je drei Megawatt Leistung ans Netz bringen, jeden Tag geothermische Turbinen mit 300 Megawatt Leistung und jede Woche ein Atomkraftwerk mit drei Gigawatt Leistung bauen. Das ist natürlich völlig utopisch - und so bliebt uns nur ein anderer Weg: Wir müssen unsere Energie- und Ressourceneffizienz steigern - und dazu müssen wir unsere Wirtschaft radikal entmaterialisieren.

"Grundlegender gesellschaftlicher Wandel"

Die Frage ist also: Wir können wir diese Bewegung stärken? Denn Körperfresser haben wirtschaftlich gesehen einen schweren Stand. "Die Konsumgesellschaft ist auf Ressourcenverschwendung gepolt", sagt Ökoexperte Schmidt-Bleek. "Unternehmen versuchen schlecht haltbare Produkte möglichst oft zu verkaufen und so ihre Margen zu steigern. Eine nachhaltigere Industrieproduktion ist nicht möglich."

Es gebe beispielsweise keinen Anreiz für einen Autohersteller, ein Fahrzeug zu entwickeln, das eine Million Kilometer weit fährt statt der üblichen 200.000. "Statt die Ressourcenproduktivität um den Faktor fünf zu steigern, verkauft und verdient man lieber fünfmal so viel", moniert Schmidt-Bleek. "Als Feigenblatt senken die Hersteller den Benzinverbrauch ihrer Autos leicht und nennen das öko."

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Fotostrecke: Strategien für eine nachhaltige Konsumgesellschaft

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Schmidt-Bleek betreibt in Frankreich das Faktor-10-Institut. Er will die Ressourcenproduktivität also um den Faktor 10 steigern. Steuern will er weitgehend abschaffen und stattdessen die Preise für Öl, Gas, Wasser, Metalle und andere Ressourcen, die für die Güterproduktion nötig sind, radikal verteuern. "Nur so wird es für Unternehmen zu einem Wettbewerbsvorteil und für Verbraucher zu einem Kostenvorteil, den eigenen Ressourcenverbrauch drastisch herunterzuschrauben."

Sein Ex-Kollege Weizsäcker, mit dem sich Schmidt-Bleek mittlerweile zerstritten hat, schlägt ein ähnliches Konzept vor. Er ist Co-Autor des Buchs "Faktor 5", demzufolge sich die weltweite Ressourcenproduktivität um den Faktor 5 steigern lässt. Um Unternehmen und Verbraucher zu mehr Effizienz zu bewegen, will er die Energiepreise kontinuierlich anheben. "So wie bei den Bruttolöhnen: die haben sich über hundert Jahre parallel mit der Arbeitsproduktivität erhöht und dabei mehr als verzehnfacht", sagt Weizsäcker.

Öko-Revolution im Internet

Andere Weltverbesserer gehen pragmatischer vor. Eine neue Start-up-Generation bläst zur Öko-Revolution per Internet. Statt die Gesellschaft durch Strafsteuern grün zu regieren, gewährt sie Kunden Einsicht in die eigenen Ökosünden. Es gibt Übersetzungstools wie One did it , die den täglichen Energieverbrauch eines Menschen in greifbarere Einheiten wie Cash oder Kilogramm umrechnen oder Anwendungen wie GoodGuide.com , die Nutzern im Supermarkt mitteilen, wie viel Kohlendioxid bei der Herstellung des Fertiggerichts ausgestoßen wurde, das man gerade in den Einkaufswagen legen will.

Solche Erkenntnisse sollen Verbraucher zu ressourceneffizienterem Verhalten bewegen. Spezielle Communitys versorgen sie zudem mit Tipps zum nachhaltigen Leben und zur Steigerung der Lebensqualität. Fernziel ist ein kollektives grünes Gewissen. Die Bewegung hat prominente Unterstützung: Ex-Präsidentschaftskandidat Al Gore und Google-Chef Eric Schmidt halten es für möglich, dass das Netz in den kommenden Jahren seine erste globale Bewegung in Gang bringen wird, eine Öko-Bewegung, die unser Energieverhalten grundlegend verändern könnte.

Vielleicht ist die Dematerialisierung der Wirtschaft aber ohnehin unaufhaltsam - so wie in der Geschichte von Jack Finney. In dessen Horrorroman flüchtet der Protagonist Miles letztlich an den Hafenkai, um der Invasion der Pflanzenparasiten per Schiff zu entkommen. Als er dort ankommt, bemerkt er, dass es gar kein Entkommen gibt: Die Körperfresser haben die Weltherrschaft schon längst übernommen.

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