Leopoldina-Forscher über Energieversorgung Experten halten Importstopp für russisches Erdgas für »handhabbar«

Erdgasempfangsstation der Europäischen Gasanbindungsleitung Eugal in Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern)
Foto: Hannibal Hanschke / REUTERSDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Ein Team von Gelehrten der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina hält die Auswirkungen eines kurzfristigen Lieferstopps für Erdgas aus Russland für »handhabbar« für die deutsche Volkswirtschaft. Das ist das Ergebnis einer Stellungnahme der ältesten Wissenschaftlergemeinschaft in Deutschland, die dem SPIEGEL vorliegt. Darin heißt es: »Engpässe könnten sich im kommenden Winter ergeben. Es bestünde die Möglichkeit, durch die unmittelbare Umsetzung eines Maßnahmenpakets die negativen Auswirkungen zu begrenzen und soziale Auswirkungen abzufedern.«
In ihrer Ad-hoc-Analyse haben sich die Forscherinnen und Forscher mit dem Bedarf an Erdgas für Deutschland sowohl kurzfristig für den kommenden Winter aber auch mittel- und langfristig beschäftigt. Neben der Versorgungssicherheit ging es ihnen um die Bezahlbarkeit für Wirtschaft und Verbraucher, aber auch um die Auswirkungen für die Klima- und Energiewende. Langfristiges Ziel, so die Leopoldina-Forscher, sei ein resilientes und klimaneutrales europäisches Energiesystem.
Damit behandeln die Leopoldina-Wissenschaftler zwei Szenarien. Zum einen, dass Russland den westlichen Staaten und Deutschland als Reaktion auf die Sanktionen seinerseits die Lieferung von Erdgas verweigern sollte. Ein realistisches Szenario, wie eine Äußerung des russischen Vizeministerpräsidenten Alexander Nowak von gestern nahelegt.
Die russische Regierung könnte die Erdgasversorgung nach Deutschland als Reaktion auf die Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 kappen. Ein »Embargo für den Gastransport durch die Nord-Stream-1-Gaspipeline« wäre angesichts der »unbegründeten Anschuldigungen gegen Russland bezüglich der Energiekrise in Europa und des Verbots von Nord Stream 2« gerechtfertigt, so Nowak.
Den Gashahn könnte im anderen Szenario aber auch der Westen zudrehen. Die Wissenschaftler greifen damit in die Debatte ein, wie die Sanktionen gegen Russland im Angesicht des Angriffskriegs auf die Ukraine ausgeweitet werden könnten. Der ukrainische Ministerpräsident Wolodymyr Selenskyj hatte dies schon zu Beginn des Krieges gefordert. Der zuständige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck lehnte es vergangenen Donnerstag ab, weil hohe Energiepreise und »sozialer Unfrieden« in Deutschland drohten.
Eine optimistische Analyse – auf den ersten Blick
Die Leopoldina-Forscher kommen in ihrer im Prinzip optimistischen Analyse auf eine Versorgungslücke und große Belastungen für Bevölkerung und Wirtschaft – und sie machen entscheidende Bedingungen dafür aus, dass der Importstopp »handhabbar« bleibt. Demnach importierte Europa im Jahre 2019 rund 1768 Terawattstunden an Erdgas aus Russland, Deutschland davon allein 450 Terawattstunden, was rund 50 Prozent des gesamten Bedarfs ausmachte.
Würde Deutschland seine Speicher zum Winter gefüllt haben, wäre dort Platz für Gas mit der Energie von 275 Terawattstunden, also mehr als der Hälfte der jährlich aus Russland stammenden Menge. »Flüssiggas aus verschiedenen Teilen der Welt könnte das russische Erdgas dort ersetzen, wo Gas in der kurzen Frist nicht substituierbar ist«, schreiben die Wissenschaftler der renommierten Akademie.
Doch dies sei nur »theoretisch«, geben sie zu bedenken. Denn derzeit verfügt das Land nicht über eigene Flüssiggasterminals. Die in anderen europäischen Ländern zur Verfügung stehenden Kapazitäten betragen 1100 Terawattstunden, was die derzeit aus Russland importierten 1768 Terawattstunden »zu einem erheblichen Teil« kompensieren könnten.
Zu einem erheblichen Teil, aber nicht vollständig.
Der Staat als Erdgaskäufer
Um die Lücke zu schließen, kommen die Erdgasspeicher ins Spiel, so die Forscher: »Um eine Versorgung im kommenden Winter unabhängig von der Verfügbarkeit russischen Gases sicherzustellen, müsste zudem die Einspeicherung unterjährig beschaffter Mengen sichergestellt werden.«
Die Wissenschaftler sehen deshalb den Staat in der Pflicht, den liberalisierten Gasmarkt so umzugestalten, dass nicht die Unternehmen das Erdgas aufkaufen. Es sei zu entscheiden, ob die EU möglichst schnell auf dem Gasmarkt »als koordinierter und verbindlich handelnder, gegebenenfalls sogar von den privaten Gasimporteuren das Anlegen von Gasreserven einfordernder Nachfrager auftreten sollte«, schreiben sie in ihrer neun Seiten langen Stellungnahme.
Die Strukturen des Gasmarktes müssten dazu vollständig umgekrempelt werden. Denkbar sei eine weiterhin rein privatwirtschaftliche Energieversorgung unter staatlicher Regulierung und Aufsicht bis hin zu einer »im Grundsatz« vollständig staatlichen Energieversorgung. Der Staat sei insbesondere gefragt beim Aufbau von »Energiehäfen«, weiteren Großspeichern und Übertragungsnetzen (»Energieautobahnen«). Andere Elemente des Übertragungsnetzes könnten weiterhin rein privatwirtschaftlich organisiert sein.
Nach einem Importstopp von russischem Erdgas müsse zudem mit dem vorhandenen Erdgas sparsam umgegangen werden, empfehlen die Leopoldina-Gelehrten. Dazu gehört auch, den kostbaren Energieträger nicht in Kraftwerken in Strom zu verwandeln. Das müsste auf kurze Sicht zumindest durch Kohle geschehen, auch wenn dies zulasten des Klimas gehe.
So schreiben die Forscher: »Eine kurzfristige Entlastung ließe sich erreichen, wenn die disponible Leistung der Gaskraft durch disponible Leistung aus heimischer Kohle ersetzt würde, was ohne Änderungen der Infrastruktur sofort möglich ist.« Was sie damit indirekt sagen, dürfte Klimaschützer gar nicht freuen: Heimisch ist derzeit nur Braunkohle, die schmutzigste und klimaschädlichste aller fossilen Brennstoffe, die zu finden sind in der ostdeutschen Lausitz und im Rheinischen Revier.

Leopoldina-Präsident Gerald Haug
Foto:Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL
Ein weiterer Nebeneffekt besteht in deutlich steigenden Kosten für die Kompensation von russischem Erdgas. Auch da muss der Staat gegensteuern. Er müsse »Belastungen der Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen sozial abfedern und Unternehmen von Energiesteuern entlasten«, heißt es in der Analyse.
Und noch einen wichtigen Faktor erwähnen die Forscher, ohne das allzu prominent zu tun, eine Bedingung, die nicht in menschlicher Hand liegt: das Wetter im kommenden Winter. »Bei der Wärmeversorgung könnte es in strengen Wintern zu Einschränkungen der industriellen Wärmeversorgung kommen«, heißt es in ihren Ausführungen. Mit anderen Worten: Wird der kommende Winter kälter als der diesjährige, dann kommt es zu einem Mangel an Gas, der nach bestehender Rechtslage dazu führt, dass Industriekonzerne abschalten müssen.
Abgemildert werden könnte dieser Effekt nur, wenn die Industrie durch die teuren Gaspreise schon im vorangegangenen Sommer ihre Produktion reduziert, oder effizienter gemacht hat, mithin also ihren Gasverbrauch bereits gesenkt hat. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind in ihrer Analyse nüchtern, bei Wirtschaftsleuten dürften diese Zeilen für große Unruhe sorgen.
Eine To-do-Liste für die Politik
Die Forscher geben Politik und Wirtschaft eine umfangreiche To-do-Liste auf den Weg, unterteilt in Maßnahmen, die in den kommenden Wochen und Monaten, innerhalb eines Jahres und in den nächsten zwei bis zehn Jahren zu erledigen sind. Zu diesen langfristigen Aufgaben zählt dann der radikale Ausbau der erneuerbaren Energien, die Herstellung von grünem Wasserstoff und die Transformation der Wirtschaft zur klimaneutralen Produktion.
Die Autorinnen und Autoren heben hervor, dass die Bundesregierung bereits eine Reihe der von ihnen vorgeschlagenen Punkte umgesetzt hat oder im Begriff dazu ist. Dazu zählen die neuen Regelungen, mit denen Gasspeicher zu bestimmten Stichtagen vorgeschriebene Füllstände erreicht haben müssen. Auch habe sich der Staat bereits als Gaskäufer betätigt.
Dringend raten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon ab, den geplanten Kohleausstieg 2030 infrage zu stellen. »Er hilft dabei, von russischen Kohleimporten, die 50 Prozent der Gesamtimporte ausmachen, unabhängig zu werden«, schreiben sie.
Die Leopoldina unter ihrem Präsidenten Gerald Haug hatte bereits während der Coronapandemie mit einer Reihe von Ad-hoc-Stellungnahmen der Politik Entscheidungshilfe gegeben. Nun erhebt sie auch im Ukrainekrieg ihre Stimme.
Mitgewirkt haben elf Forscherinnen und Forscher aus ihren Reihen, darunter die Klimaforscherin Antje Boetius vom Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, die Wirtschaftsweise Veronika Grimm, die Volkswirtschaftler Christoph Schmidt vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen und Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung oder Ferdi Schüth, Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim.