Mehrwegsystem unter Druck Hol mir mal 'ne Flasche Bier
Sie muss einiges erlebt haben auf ihrer langen Reise, so ramponiert, wie sie daherkommt. Schnüre aus Kerzenwachs sind an ihrem schmalen Hals festgetrocknet. Über ihren Bauch ziehen sich Striemen. Dass sie obendrein schal nach Bier riecht, darf man ihr nicht übelnehmen, der braunen 0,33-Liter-Flasche mit der Aufschrift Alpirsbacher Klosterbräu.
In einem Kasten mit Beck's-Flaschen und Astra-Knollen rollt sie über die Fließbänder im Sortierzentrum des Einbecker Brauhauses zwischen Kassel und Hannover. Vielleicht schmeckte einem Urlauber das helle Bier aus dem Schwarzwald so gut, dass er ein paar Flaschen nach Niedersachsen mitbrachte und das Leergut nun zu Hause im Supermarkt in Einbeck abgegeben hat. Von dort gelangte die Flasche zur nächsten Brauerei, dem Einbecker Brauhaus. Gereinigt und mit neuem Etikett versehen, kann die mittelständische Brauerei sie mit ihrem eigenen Bier befüllen. Die Flasche tritt die nächste Runde an im ewigen Kreislauf des Mehrwegsystems.
Öko-Desaster Designerflasche
Um sein Mehrwegsystem beneiden Deutschland viele, zusammen mit Mülltrennung und Energiewende steht es für das Umweltbewusstsein der Deutschen. Doch ausgerechnet ihr liebstes Getränk, das Bier, stellt das System nun vor große Herausforderungen.
Denn immer mehr Brauereien verkaufen ihre Biere in aufwendig designten Flaschen. Das Flensburger Radler kommt in einer blauen Flasche mit Bügelverschluss daher. Desperados wird mitunter in bauchigen 0,66-Liter-Flaschen verkauft, in Deutschland eine völlig unübliche Größe. Und nun hat auch noch Krombacher, Deutschlands größter Pils-Hersteller, eine Relief-Flasche eingeführt, die sein Wappen trägt. 600 Millionen Pullen will das Unternehmen auf den Markt bringen. Von denen jede einzelne, nachdem sie ausgetrunken wurde, zurück zu Krombacher muss. Keine andere Brauerei kann mit den verzierten Flaschen etwas anfangen.
Es stellen sich zwei Fragen: Was passiert eigentlich mit einer Bierflasche, nachdem sie im Supermarkt in den Pfandautomaten gefahren ist? Und ist Mehrweg tatsächlich so ökologisch, wenn die Flaschen Hunderte Kilometer durch Deutschland gekarrt werden müssen?
Weg von der Bauarbeiterpulle
"Als ich angefangen habe, mussten wir zehn Prozent der Flaschen aussortieren, heute ist es bald jede dritte", sagt André Quittenbaum, der seit zwölf Jahren für Einbecker arbeitet und heute das Sortierzentrum leitet. Erst vor Kurzem hat die Brauerei, die, ihre Tochterfirmen eingeschlossen, 220 Mitarbeiter beschäftigt, ihre Sortieranlage erweitert. Eine Millioneninvestition. Ein Roboter trennt nun die Flaschen, die Einbecker verwenden kann, von all den anderen Limo-, Radler-, Weizenbierbehältern, und allem, was noch in die Bierkästen geraten ist.
Früher, logisch, war die Bierwelt besser. Die Deutschen tranken mehr Bier. Und sie tranken es aus einheitlichen Flaschen, die fast alle Brauereien mit ihrem Bier wiederbefüllen konnten: aus der Euroflasche, heute als Bauarbeiterpulle verschrien, der NRW-Flasche, später aus der Longneck-Flasche. Die Bildergalerie gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Formen.

Mehrwegsystem: Die Flaschentypen im Überblick
Um die Jahrtausendwende jedoch entdeckten mehr und mehr Brauereien die Bierflasche als Werbemittel. Eine Flasche war plötzlich nicht mehr nur eine Flasche, sondern Teil der Markenidentität, eine Möglichkeit, sich von den Tausenden Bieren der Konkurrenz abzuheben. Schlanke Hälse stehen für Eleganz, wulstige Firmenwappen auf dem Glas kann der Trinker betasten, während er die Flasche hebt. Ungefähr 120 Flaschenformen kursieren inzwischen auf dem Biermarkt, schätzen Experten.
Quittenbaum, Leiter des Sortierzentrums bei Einbecker, blickt über den Hof der Brauerei, meterhoch stapeln sich die Kisten in den Himmel, säuberlich sortiert vom Roboter. Nebenan baut das Unternehmen ein neues Lagerhaus. Kistentürme mit grünen Longneck-Flaschen, wie sie Beck's verwendet, reihen sich nebst zarten Vichy-Flaschen von Herstellern wie Rothaus aus Baden.
Mit einigen Brauereien hat Einbecker Tauschpartnerschaften geschlossen. Quittenbaum schickt dann zum Beispiel eine Lastwagenladung Vichy-Flaschen, rund 50.000 Stück, an einen Konkurrenten und erhält im Gegenzug eigene Flaschen zurück; die Brauerei verwendet ebenfalls eine individuelle Flasche mit Schriftzugprägung. Der Roboter sortiert aber auch Flaschen aus, die Quittenbaum nicht mit anderen Brauereien tauschen kann, weil so wenige von ihnen bei Einbecker ankommen. Für sie gibt es den Lumpensammler.
So nennen Quittenbaum und seine Mitarbeiter die Leerguthändler, die mit dem Flaschen-Puzzle Geld verdienen. Sie kaufen den Brauereien überflüssige Flaschen ab, sortieren sie und verkaufen sie an jene Hersteller weiter, die den Flaschentyp brauchen. Dabei kaufen die Händler unter Pfandwert und verlangen für das sortierte Leergut mehr als die acht Cent, die es für eine leere Bierflasche gibt. Ihre Bügelflasche kostet die Flensburger Brauerei bis zu 25 Cent.
Das geht so weit, dass es sich vor allem für kleine Brauereien überhaupt nicht lohnt, wegen ein paar Kisten Leergut Hunderte Kilometer durch die Gegend zu fahren. "Wenn seltene Flaschen am anderen Ende der Republik abgegeben werden, sieht die Herkunftsbrauerei sie nie wieder", sagt Michael Scherer, Geschäftsführer der Sozietät Norddeutscher Brauereiverbände. "Es wird wahnsinnig viel Leergut durch Deutschland gekarrt." Scherer setzt sich deshalb für die Standardflasche ein.
Ein Bierfass gibt es nicht in 120 Formen
Wirbt er bei Brauern, hört er immer zwei Argumente: Eine eigene Flasche stärkt die Marke. Standardflaschen sind ungepflegt.
Gegen das erste Argument lässt sich wenig sagen, weil sich kaum messen lässt, wie eine Individualflasche zum Erfolg einer Brauerei beiträgt. Das zweite Argument ist nicht ganz falsch.
Denn für das Aussehen der Standardflaschen sind alle Brauereien verantwortlich, und damit gar keine. Alle wollen schöne neue Flaschen. Niemand will neue schöne Flaschen kaufen. Denn die kosten. Billiger ist es, darauf zu hoffen, dass die anderen Brauereien genügend makellose Pullen in den Leergutkreislauf einspeisen - von denen dann alle profitieren, nicht nur jene Brauer, die die Flaschen gekauft haben. Ein klassisches Trittbrettfahrerproblem. Für das Aussehen der Individualflaschen hingegen sind ihre Hersteller allein verantwortlich.
In einer umstrittenen Studie hat das Beratungsunternehmen Deloitte herausgefunden, dass die NRW-Flasche im Schnitt 42-mal wiederbefüllt wird, Halbliter-Individualflaschen schaffen dagegen nur 20 bis 38 Umläufe. Sind Mehrwegflaschen noch ökologisch, wenn die Zahl der Individualflaschen steigt und diese seltener wiederverwendet werden?
Ja, sagt Thomas Fischer, Bereichsleiter Kreislaufwirtschaft der Deutschen Umwelthilfe. Zum einen hätten noch immer mehr als vier von fünf Mehrwegbierflaschen die Standardform. Zudem seien für die Ökobilanz der Flaschen vor allem die ersten zehn Umläufe entscheidend. Und die erreichten auch die Individualflaschen locker, die obendrein meist dünner und leichter seien - und damit einen umweltschonenderen Transport ermöglichten. "Das Problem von Individualflaschen ist in erster Linie ein ökonomisches und kein ökologisches", heißt es in einem Hintergrundpapier der Umwelthilfe.
Die Kosten für den gestiegenen Sortieraufwand tragen die Brauereien - und die Verbraucher. Die Teil des Flaschenproblems sind. "Vor allem in den Städten kauft fast niemand mehr einen kompletten Kasten. Die meisten nehmen hier ein Sixpack mit, dort zwei Flaschen Alkoholfreies", sagt Lothar Gauß, Vorstand von Einbecker. Nicht nur die vielen Individualflaschen, auch das Verhalten der Verbraucher machten das Sortieren so aufwendig.
Die Lösung: vollständige Kästen kaufen. Noch besser: gleich ein Fass. Das gibt es nicht in 120 Formen.