"Lancet"-Studie Lebensmittelkonzerne übernehmen Methoden der Tabaklobby

Es sind harte Vorwürfe: Internationale Lebensmittelkonzerne untergraben systematisch die Gesundheitspolitik - und gleichen darin der Tabakindustrie. Diesen Befund stellen Wissenschaftler in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet". Fazit ihrer Studie: Die Branche braucht mehr Gesetze.
Softdrink und fettiges Essen: Viele Produkte der Lebensmittelindustrie sind ungesund

Softdrink und fettiges Essen: Viele Produkte der Lebensmittelindustrie sind ungesund

Foto: Corbis

Die Lebensmittelindustrie gerät wieder einmal in die Kritik, allerdings aus einer ungewohnten Ecke. In einer Untersuchung, die in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlicht wurde , greifen Mediziner, Soziologen und Gesundheitsexperten aus aller Welt die Branche scharf an: Internationale Nahrungsmittelkonzerne untergraben systematisch die staatliche Gesundheitspolitik, ähnlich wie es die Tabakindustrie früher getan habe.

Der Text ist Teil einer großangelegten Studie über die wachsende Bedrohung durch nichtansteckende Krankheiten, wie Schlaganfall, Diabetes, Krebs und Herzkrankheiten, die sich in den Industrieländern schnell verbreiteten. "The Lancet" spricht von "epidemischen Ausmaßen", jüngsten Schätzungen zufolge starben 2010 insgesamt 34,5 Millionen Menschen an nichtübertragbaren Krankheiten, bis 2030 könnten es bereits 50 Millionen Tote pro Jahr sein.

Zwar seien diese Erkrankungen zum großen Teil einem ungesunden Lebensstil mit Tabak, Alkohol und wenig Bewegung geschuldet. Doch Teil des Problems sei auch, dass in der westlichen Welt große Mengen energiereichen Essens und zuckerhaltiger Getränke billig bereitstünden und dazu noch offensiv beworben würden. Als die Vereinten Nationen sich dem Problem der nichtansteckenden Krankheiten im Herbst 2011 annahmen, entschieden die Beteiligten deshalb, auch die Unternehmen der Lebensmittelindustrie mit einzubinden - man setzte auf Selbstverpflichtungen und Aufklärung.

Die Wissenschaftler, die jetzt in "The Lancet" publizieren, halten diese Strategie für sinnlos: Wer mit den Großkonzernen der Lebensmittelbranche über Obergrenzen von Salz, Fett und Zucker in ihren Produkten verhandele, werde nichts erreichen: "Eine Selbstverpflichtung ist, als würden Sie Einbrecher damit beauftragen, ein Türschloss einzubauen", sagt Mitautor Ron Moodie, von der Uni Melbourne in Australien.

Um die rasante Ausbreitung von nichtansteckenden Krankheiten vor allem in den Schwellenländern einzudämmen, sollten Regierungen die Lebensmittelkonzerne wie die Tabakindustrie behandeln, schreiben die Wissenschaftler: Als Unternehmen, deren einziges Interesse es ist, möglichst große Mengen ungesunder Produkte zu verkaufen.

Taktiken bei der Tabakindustrie abgeschaut

Die Studienautoren zitieren interne Dokumente, die belegen, was Kritiker der Branche seit Jahren behaupten: Die Nahrungsmittelindustrie beeinflusst die öffentliche Gesundheitsvorsorge, indem sie Forschungsergebnisse lenke, beispielsweise durch die Finanzierung von Forschungsarbeiten. Studien, die ausschließlich von Lebensmittelkonzernen bezahlt wurden, zeigen "The Lancet" zufolge vier bis acht Mal so häufig Ergebnisse, die im Interesse der Industrie sind, wie Studien, die aus anderen Quellen finanziert wurden.

Andere Strategien der Lebensmittelindustrie seien konsequente Lobbyarbeit bei Politikern und in den Gesundheitsbehörden. Tatsächlich werfen Kritiker auch der europäischen Lebensmittelbehörde Efsa vor, zu konzernfreundlich zu sein. Immer wieder wechselten Wissenschaftler direkt aus der Industrie in die Behörde oder umgekehrt. Ob die Efsa-Forscher tatsächlich tendenziöse Stellungnahmen abgegeben oder Studien beeinflusst haben, ist allerdings nicht bewiesen.

Die Branche hat sich den Wissenschaftlern zufolge noch andere Taktiken von der Tabakindustrie abgeschaut: Um von genereller Kritik abzulenken, engagierten sich die Konzerne auf Feldern, die außerhalb ihrer Expertise liegen. So setzten sich Tabakkonzerne gegen Gewalt gegen Frauen ein, Softdrink-Hersteller propagierten Sportveranstaltungen.

Ein Beispiel in Deutschland ist die Plattform Ernährung und Bewegung (PEB), die "gemeinsam für einen gesunden Lebensstil von Kindern" wirbt. Unterstützer sind, neben vielen staatlichen Institutionen, unter anderen der Süßwarenkonzern Ferrero, der Softdrink-Hersteller Coca Cola oder die Fastfood-Restaurantkette McDonalds. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE weist der deutsche Branchenverband, die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) genau auf diese Plattform hin, als gutes Beispiel für einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Auch die Selbstverpflichtung hält die BVE für einen "gangbaren und erfolgreichen Weg" zu einer ausgewogenen Ernährung.

Es sind genau diese Strategien und diese Art der Kommunikation, die die Autoren der Studie anprangern. Auch seien die Parallelen zwischen Tabak-, Alkohol-, Softdrink- und Lebensmittelherstellern "nicht überraschend", heißt es in der Studie, wenn man sich den "Strom von Menschen, Geld und Aktivitäten zwischen den Branchen ansieht, die in der Vergangenheit sogar gemeinsame Eigentümerstrukturen hatten". Eine Anspielung auf Konzerne wie Altria Group, der früher sowohl die Tabaksparte Philip Morris als auch das Lebensmittelgeschäft von Kraft Foods unter einem Dach gebündelt hatte.

Die Politik dürfe nicht auf eine Selbstregulierung der Branche setzen, schließt die Studie. Die einzige Möglichkeit den Vormarsch von nichtansteckenden Krankheiten zu verhindern sei die gesetzliche Regulierung der Konzerne.

Der Ansatz, gemeinsam mit der Industrie gegen die Verbreitung nichtansteckender Krankheiten wie Fettleibigkeit oder Herz- und Kreislauferkrankungen vorzugehen, sei gescheitert. Stattdessen schlagen die Autoren ein System der "öffentlichen Regulierung" vor. Die Politik solle die Konzerne unter Druck setzen, indem sie "die Aufmerksamkeit auf deren dubiose Praktiken lenke und den aktiven öffentlichen Druck" aufrechterhalte.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren