Studie Deutsche können alles - außer genießen

Strand auf den Seychellen: Die Deutschen können nicht loslassen
Foto: CorbisHamburg - Irgendwann platzte Sven der Kragen. Detailliert hatten andere Teilnehmer der Gruppendiskussion berichtet, wie sie den Feierabend mit ihrer Partnerin zelebrieren, um die letzten Stunden des Tages zu genießen. "Du hast gut reden!", schleuderte Sven einem Vorredner entgegen. "Dazu muss man doch erst mal die Möglichkeit haben! Mir knallt mein Chef oft noch kurz vor Dienstschluss was auf den Schreibtisch, und wenn ich dann später nach Hause komme, ist meine Frau sauer, weil sie sich alleine um unser Kind und den Haushalt hat kümmern müssen." An einen entspannten Feierabend sei da gar nicht mehr zu denken.
Tröstlich für Sven: Er ist mit seinem Problem nicht allein. Der 36-Jährige nahm an einer Studie des Marktforschungs- und Beratungsinstituts Rheingold teil. Das Ergebnis: 46 Prozent der Menschen in Deutschland sagen, dass es ihnen angesichts von Stress im Alltag und dem Gefühl ständiger Erreichbarkeit immer weniger gelingt, etwas zu genießen. Bei den Jüngeren haben sogar 55 Prozent das Gefühl, ihnen sei die Fähigkeit zum Wohlbefinden verlorengegangen.
Egal ob Essen, Alkohol, Urlaub oder Wellness - den Deutschen fehlt offenbar die Muße für den Genuss. Nicht einmal beim Sex können sie loslassen. Das Fazit der Forscher: "Das Genuss-Gen ist bei uns immer häufiger defekt - wir haben verlernt zu genießen."
"Erst die Arbeit, dann das Vergnügen"
Das Ergebnis passt in das Bild, das viele Europäer in der Euro-Krise von den Bundesbürgern haben: Verkniffene Streber, die selbst im Strandurlaub noch die Spaßbremse angezogen haben. Das gute Image, das sich die Deutschen während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland erfeiert haben, scheint dahin.
"Damals haben die Deutschen wirklich Lebensfreude ausgestrahlt", sagt Rheingold-Psychologin Ines Imdahl. "Diese Stimmung ist ab 2008 wieder gekippt." Die Finanz- und Schuldenkrise laste auf den Bundesbürgern. "Das ist mehr als nur Meckern. Die Leute haben das Gefühl: Wir müssen diese ganze Krise hier stemmen."
Aber es ist nicht nur die Krise, die den Deutschen zu schaffen macht. Es ist vor allem ihr Perfektionismus, der ihnen im Weg steht. In mehrstündigen Einzel- und Gruppeninterviews haben die Forscher das Genussempfinden von 60 Teilnehmern durchleuchtet und die Ergebnisse bei einer repräsentativen Befragung von 1000 Frauen und Männern abgeklopft. Auftraggeber waren die Spirituosenkonzerne Diageo und Pernod Ricard.
81 Prozent der Befragten sagten, sie können dann am besten genießen, wenn sie vorher etwas geleistet haben. "Wie heißt es doch: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen", verkündete die 61-jährige Wiltrud.
Die entscheidenden Bausteine fehlen den Deutschen
Das Problem vieler Deutscher: Dieser Mechanismus funktioniert nicht. "Oft haben uns Leute erzählt, dass sie abends nach einem stressigen Tag nach Hause kommen und dann gar nicht sagen können, was sie überhaupt geschafft haben", berichtet Imdahl. "Und dann sagen dir deine Mitmenschen auch noch: 'Hey, entspann dich doch mal.' Da wird der Genuss zum Zwang."
Die Chance auf Wohlbefinden lauert überall: ein Gläschen Wein, ein entspannendes Schaumbad, ein schönes Restaurant mit gutem Essen. Ausgerechnet das macht den Deutschen zu schaffen. "Dieses Überangebot führt zu dem Druck 'Ich muss alles genießen'", sagt Imdahl.
Die Forscher haben im Laufe der Studie eine typisch deutsche Abfolge von Wohlgefühl entschlüsselt. Sie nennen es Genuss-DNA. Am Anfang steht das Gefühl, sich etwas verdient zu haben. Dann wird der ersehnte Genuss vorbereitet, zum Beispiel mit einem Wellness-Tag. Doch die größte Hürde kommt noch: loslassen und den Kopf freikriegen. Wenn dann noch ein positiv überraschender Moment hinzukommt, kann der ganzheitliche Hochgenuss folgen.
Doch bei vielen Deutschen fehlen offenbar die entscheidenden Bausteine in der Genuss-DNA. Zwar sagten 91 Prozent der Befragten, erst Genuss mache das Leben lebenswert. Doch nur 15 Prozent konnten von Momenten berichten, in denen sie alles um sich herum vergessen haben und richtig glücklich waren.
Zwei Drittel träumen davon, mal was Provokantes zu machen. Beispiel gefällig? Ein Motorradfahrer empfand Hochgenuss, als er beim Losfahren an der Ampel seine Auspuffgase einem Cabriofahrer ins Gesicht blasen konnte.
Wären wir gerne griechischer?
Hier kommt ein weiteres Phänomen deutscher Genusskultur ins Spiel: der Neid auf das Wohlempfinden der anderen. "Viele denken sich: Mensch, wie macht der das?", sagt Psychologin Imdahl. Dieses deutsche Denken könne man sogar in der Euro-Krise beobachten. "Wenn wir uns über hohe Renten und Urlaubstage der Griechen aufregen, spielt natürlich auch Genuss-Neid eine Rolle." Wären wir Deutsche also gerne griechischer? Imdahl winkt ab: "Das passt nicht zu uns."
Okay, echte südeuropäische Lässigkeit werden wir nie erlangen. Aber zumindest in ganz intimen Momenten können wir uns lockermachen, oder? Doch Fehlanzeige! In den Tiefeninterviews wurde klar: Nicht einmal beim Sex können die Deutschen wirklich loslassen. Viele haben ständig Bilder aus der Werbung oder aus Filmen vor Augen. "Dadurch entsteht der Anspruch, selbst beim Sex eine gute Figur zu machen", sagt Imdahl. Also Bauch einziehen statt gehenlassen.