Warteschleife Grau, grau, grau sind alle meine Kleider

Versandunternehmen Amazon: Das Internet in der Tasche
Foto: RICK WILKING/ REUTERSAls zum dritten Mal binnen einer Stunde der Paketbote klingelt, platzt meiner Frau Tanja der Kragen. "Diese ganzen Kisten! Was ist das bloß alles?"
"Internetbestellungen - Laufsocken, ein Buch und Bleistifte", entgegne ich.
"Du kaufst einen Bleistift bei Amazon? Au Mann!"
Es waren immerhin drei Stifte. Das würde ich ihr gerne entgegenhalten, aber Tanja ist schon weg. Während ich meine Päckchen öffne, überlege ich, ob ich tatsächlich zu viel Zeugs im Internet bestelle. Zweifelsohne zerstört E-Commerce ja den stationären Einzelhandel und heizt nebenbei die Erderwärmung an. Wenn alle ihre Kulis online ordern, wird es irgendwann keine Schreibwarengeschäfte mehr geben - und außerdem keinen Winter mehr.
Apropos Winter: Ich wollte mir eine neue Daunenjacke zulegen. Ich unterdrücke den Impuls, das im Internet zu tun und fahre stattdessen in die Münchner Innenstadt. Dort gibt es einen riesigen Wintersportladen, sechs Etagen nur Jacken, Mützen und Thermohosen. Eine solche Auswahl, denke ich beeindruckt, kann es sonst überhaupt nirgendwo geben - hier lagern mehr Daunenfedern als bei Frau Holle.
Ich probiere einige Jacken an und bin nun ganz froh, nicht im Internet bestellt zu haben. Denn in den meisten sehe ich aus wie ein Schlafsack auf Beinen. Ein freundlicher Verkäufer bringt mir geduldig Modell um Modell. Und er erklärt mir, welche sich für eine Everest-Besteigung eignen - und welche eher für Spaziergänge im Englischen Garten.
Irgendwann finde ich eine Daunenjacke der Marke Marmot. Sie sitzt perfekt. Leider ist die Farbkombination "Golden Yellow/Blue Ocean" völlig untragbar, wenn man nicht gerade im Zirkus arbeitet.
"Gibt's die auch in Schwarz?", frage ich.
"Leider nein", sagt der Verkäufer. "Nur diese Optik."
Während er jemand anderen bedient, steuere ich mit dem Smartphone die Seite von Marmot an und stelle fest, dass es meine Jacke in sechs verschiedenen Farben gibt. Ich gehe wieder zu meinem Verkäufer und zeige auf das Display.
"Es gibt viele andere Farben."
"Kann schon sein", sagt er. "Aber nicht bei uns."
Klick, zack, gekauft
Ohne Beute ziehe ich ab. Zuhause erwäge ich, die Jacke bei Amazon zu bestellen. Aber mein Gewissen meldet sich. Ein Buchhändler hat mir neulich erzählt, Amazon-Gründer Jeff Bezos sei "der Satan", und er meinte es nur halb im Scherz. In den USA hat Bezos bereits Buchketten wie Borders platt gemacht, ferner große Elektronikhändler und andere Fachgeschäfte. Kürzlich forderte Amazon seine Kunden sogar dazu auf, in Geschäften die Barcodes von Produkten einzuscannen. Wer diese dann online statt offline kaufte, bekam für seine Spitzeltätigkeit fünf Prozent Rabatt.
Finde ich fies. Stasi-Shopping ist das.
Deshalb habe ich Bauchschmerzen, mein Wintersportgeschäft als bloßen Showroom zu missbrauchen. Man hat mir dort schließlich bei der Vorauswahl geholfen, und recht freundlich waren die Leute auch. Sie haben eine Chance verdient.
Ich gehe deshalb auf die Internetseite des Geschäfts und suche dort im Online-Shop meine Jacke. Es gibt sie hier tatsächlich in einer zweiten Farbe: in Grau. Schwarz wäre mir zwar lieber, aber ich bestelle dennoch die graue. Aus Solidarität - und gegen Vorkasse, weil bei der Kreditkartenzahlung immer wieder eine Fehlermeldung angezeigt wird.
So. Jetzt macht Jeff Bezos dicke Backen! Ich gehe ins Wohnzimmer, um bei meiner Frau ein bisschen anzugeben: König Kunde, Offlinekäufer, Amazon-den-Finger-Zeiger, Retter des Einzelhandels.
Zwei Tage später kommt eine E-Mail. Die graue Daunenjacke sei wegen eines Fehlers im Warenwirtschaftssystem leider nicht lieferbar. Ich bitte um die Rücküberweisung meiner Vorauszahlung - und bekomme prompt Antwort: "Ich bin bis übernächste Woche im Urlaub. Sollte Ihr Anliegen nicht solange warten können..."
Ich tippe bei Amazon "Marmot Down Black L" ein. Drei Händler haben die Jacke im Angebot, sie sind durchweg billiger als der Wintersportladen. Alle Farben und Größen sind verfügbar. Klick, zack, gekauft.
Nicht einmal 48 Stunden später laufe ich in meiner Jacke durch die Stadt. An einem Zeitschriftenstand fällt mein Blick auf die neue Ausgabe des Technologiemagazins "Wired". Vom Cover schaut mir Jeff Bezos hypnotisch entgegen. Darunter steht: "Amazon hat das Internet in der Tasche".
Und wenn sich der Einzelhandel weiterhin so dämlich anstellt, bald auch den ganzen Rest.
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