Wasserstoff-Strategie Drängende Zukunftsfrage, mehrfach vertagt

Anja Karliczek bei einem Pressetermin im April: "Nicht noch mehr Zeit verlieren"
Foto: Christoph Soeder/ dpaEigentlich sind sich alle in der Bundesregierung einig: Wasserstoff ist der Energieträger der Zukunft. Das explosive Gas könnte in der Stahl- und in der Chemieindustrie eingesetzt werden. Es könnte Flugzeuge und Lastwagen antreiben und so mithelfen, dass die Welt klimaneutral wird.
Der Einsatz von Wasserstoff berührt also Schicksalsfragen der Menschheit. Doch das hat bislang nicht so viel Druck aufgebaut, dass sich die Regierenden auf ein Strategiepapier für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft in Deutschland einigen.
Der erste, schon damals um viele Monate verspätete Entwurf stammt bereits aus dem Januar. Jetzt ist es Mai, und noch immer ist das Papier nicht durch das Bundeskabinett. Denn es gibt einen grundlegenden Streit unter den Ressorts.
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek mahnt ihre Kabinettskollegen deshalb, das Gerangel um die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung endlich beizulegen: "Trotz Corona-Pandemie dürfen wir beim Thema Wasserstoff nicht noch mehr Zeit verlieren", sagte die CDU-Politikerin dem SPIEGEL und forderte, das Papier noch Anfang Mai im Kabinett zu beschließen. "Wir müssen den Menschen im Land und auch unserer Wirtschaft zeigen, dass wir auch in diesen Tagen an die Zeit nach der Pandemie denken", so Karliczek.
Seit Monaten können sich die federführenden Ministerien nicht auf einen gemeinsamen Text einigen. Streit gab es über die Frage, wo der bevorzugt aus erneuerbaren Energien hergestellte Wasserstoff eingesetzt werden soll. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) will auch Pkw mit dem gasförmigen Energieträger betreiben. Die anderen Ressorts, vor allem das Umweltministerium, wollen Wasserstoff hingegen vor allem in der Industrie, in der Luftfahrt und im Schwerlastverkehr einsetzen.
Selbst ein Kompromissvorschlag des Forschungsministeriums fand intern zunächst keine Zustimmung, wie aus dem 28-seitigen Entwurf der Wasserstoffstrategie hervorgeht, der dem SPIEGEL vorliegt. "Dissens besteht fort", steht dort in einer Kommentierung des Textes.
Inzwischen konnte sich zumindest die Arbeitsebene annähern. Der letzte Versuch stammt vom vergangenen Mittwoch, eine weitere Runde der Staatssekretäre aus Wirtschafts-, Forschungs-, Umwelt-, Entwicklungs- und Verkehrsministerium saßen beisammen und feilschten um die noch offenen Diskussionspunkte. Demnach soll es nun eine Formulierung zum Streitfall Pkw geben. Sie läuft letztlich darauf hinaus, dass grüner Wasserstoff nachrangig bei Autos eingesetzt werden könnte; zuerst sollen die chemische Industrie und der Schwerlastverkehr bedient werden.
Auch ein Streit über die Frage, wie viel grüner - also CO2-frei erzeugter - Wasserstoff bis zum Jahr 2030 in Deutschland hergestellt werden soll, könnte entschärft worden sein. Forschungs- und Wirtschaftsministerium lagen in diesem Konfliktpunkt bis zur vergangenen Woche weit auseinander. Karliczek will zehn Gigawatt Elektrolysekapazität, das Ressort von Parteifreund Peter Altmaier lediglich drei bis fünf Gigawatt. Der Formelkompromiss könnte demnach lauten, dass man fünf Gigawatt Herstellungskapazität im Bundesgebiet plus fünf weitere Gigawatt Kapazität aus Offshore-Windkraft an den Küsten aufbauen will.
Autos erst an zweiter Stelle?
Eine Ministerentscheidung über alle Streitfragen steht nach SPIEGEL-Informationen aber noch aus. Das Wasserstoffkonzept der Bundesregierung sieht vor, dass die Gewinnung des Wasserstoffs aus erneuerbaren Energien mithilfe der Elektrolyse vorangetrieben wird. Nur auf diese Weise ist die im Wasserstoff gespeicherte Energie klimaneutral, dann spricht man von grünem Wasserstoff. Bislang wird Wasserstoff aus Erdgas hergestellt, wobei große Mengen des Treibhausgases CO2 entstehen.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Primärenergiebedarf (Verkehr, Strom, Gebäudewärme, Industrie) im Jahr 2050 in Höhe von 2700 Terawattstunden pro Jahr zu 29 Prozent aus Ökostrom, 56 Prozent aus grünem Wasserstoff und zu 15 Prozent aus Erdgas gedeckt wird. Große Energiemengen sollen dazu aus dem Ausland kommen, etwa aus sonnenreichen Regionen in Australien oder Nordafrika, die dann in Form von Ammoniak in Tankschiffen oder über Pipelines nach Deutschland transportiert werden könnten.
Dazu sind hohe Investitionen in die Infrastruktur nötig, insbesondere in die Erzeugung mittels Elektrolyseanlagen sowie in den Ausbau der Wind- und Solarkraft in Deutschland über den Strombedarf des Landes hinaus, sodass Kapazitäten für die Wasserstoffherstellung entstehen. Ein Konjunkturprogramm nach der Coronakrise könnte diese Investitionen tragen.