
Deutschland: Die letzte Bastion für Tabakwerbung
Streit um Tabakwerbeverbot Schöner qualmen auf deutschen Litfaßsäulen
Jeden Morgen, wenn Leonie Schubert* mit dem Roller zur Schule fährt, sieht sich die Zehnjährige die hippe, coole Welt auf den Plakaten an. Mal schauen sich ein gut aussehender Mann und eine noch besser aussehende Frau tief in die Augen, die Zigaretten vor den Lippen. Mal gönnt sich ein glückliches Pärchen eine Rauchpause im Bootshaus am See. Mal verkündet "L&M" in großen Lettern: "Money makes you happy, but people make you rich."
Über den Spruch hat Leonie lange nachgedacht. Und darüber, ob Zigaretten sie auch glücklich machen oder ihr Leben bereichern könnten.
Leonies Weg zu einem Hamburger Gymnasium ist nur 600 Meter lang. Aber unterwegs erwarten sie vier Plakatwände, Litfaßsäulen oder rollierende Werbetafeln, die Zigaretten anpreisen. Denn Tabakreklame auf Plakaten boomt in Deutschland wie nie zuvor: 91 Millionen Euro haben die Hersteller 2015 ausgeben, um ihre Produkte Menschen wie Leonie nahezubringen. Hierzulande, und nur hier, können die Multis noch ihre ganze Kreativität auf der Straße zeigen. Denn die Bundesrepublik ist der einzige Staat der gesamten EU, der noch Außenwerbung für Zigaretten erlaubt. Und womöglich werden die Tabakkonzerne noch viele Jahre lang Millionen Kindern und Jugendlichen die wunderbare Welt des Rauchens zeigen dürfen. Dank der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, allen voran ihrem Vorsitzenden Volker Kauder.
Kauder und seine Gleichgesinnten verschleppen seit zehn Monaten einen Gesetzesentwurf ihres eigenen Parteifreundes Christian Schmidt (CSU). Der für Tabakregulierung zuständige Bundesernährungsminister will von 2020 an ein Außenwerbeverbot für Zigaretten einführen: um Kinder und Jugendliche zu schützen. Wieder und wieder haben Wissenschaftler nachgewiesen, dass Plakatwerbung junge Menschen zum Rauchen verführt. Und vier von fünf Nikotinsüchtige in Deutschland haben als Minderjährige angefangen. Die Selbstverpflichtung der Hersteller, ihre Plakatwerbung nicht auf Kinder und Jugendliche auszurichten, greift offenbar nicht.
Die Lobby rechnet bereits mit ihrem Sieg

Volker Kauder (Archivbild)
Foto: Michael Kappeler/ picture alliance / dpaAngela Merkel und ihr Bundeskabinett haben Schmidts Entwurf bereits im April 2016 abgesegnet. Das Gesetz müsste nur noch vom Parlament beschlossen werden. Doch dort steckt der Entwurf fest. Die Unionsfraktion setzt den Entwurf einfach nicht auf die Tagesordnung. Jetzt läuft die Zeit ab. Wenn sich der Bundestag in den nächsten Wochen nicht endlich mit dem geplanten Gesetz befasst, gibt es keine Chance mehr, es noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. Und dann ist Schmidts Entwurf Geschichte. Branchenvertreter rechnen bereits mit ihrem Sieg.
Deutschland ist das Lobbyparadies für die "tödliche Industrie", wie die Weltgesundheitsorganisation die Zigarettenbranche nennt. 121.000 Raucher und Passivraucher sterben in der Bundesrepublik pro Jahr an den Folgen des Tabakkonsums. Das sind 30-mal mehr Tote als durch Straßenverkehrsunfälle. Und doch hat Deutschland die mit Abstand laxesten Werbegesetze der EU. Selbst Bulgarien verbietet mittlerweile Plakatwerbung für Zigaretten.
Längst hätte auch die Regierung in Berlin die Außenreklame verbieten müssen. 2004 ratifizierte der Bundestag die Tabakrahmenkonvention der Weltgesundheitsorganisation - und verpflichtete sich, bis spätestens 2010 ein "umfassendes Verbot aller Formen von Tabakwerbung" zu erlassen. Doch sieben Jahre nach Fristablauf hat die Bundesregierung das Gelübde immer noch nicht eingelöst. Und nun steht selbst 2020 in Frage.

Christian Schmidt
Foto: Britta Pedersen/ dpaEs ist eine Blamage: vor allem für Minister Schmidt. Der hatte vor zwei Jahren ein umfassendes Werbeverbot für 2018 angekündigt. Seine Unionskollegen und das SPD-geführte Wirtschaftsministerium noch unter Sigmar Gabriel sorgten dafür, dass der Plan abgeschwächt und die Frist bis 2020 verlängert wurde. Jetzt versucht Schmidt verzweifelt, den weichgekochten Entwurf zu retten.
Anfang November schrieben Schmidt, Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und die Drogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) einen Brandbrief an alle 310 Unionsabgeordneten. "Kinder und Jugendliche können der Tabakwerbung auf Plakaten im öffentlichen Raum und im Kino nicht ausweichen", mahnten sie. Den Staat komme die Nikotinsucht teuer zu stehen: Tabaksteuereinnahmen von 14 Milliarden Euro Jahr stehen durch Rauchen verursachte Mehrkosten von 78 Milliarden Euro gegenüber. Und schließlich gebe es "erhebliche öffentliche Zustimmung für [...] eine Beschränkung der Tabakwerbung". Laut einer repräsentativen Umfrage der GfK für das Deutsche Krebsforschungszentrum sind 74 Prozent der Deutschen für das Ende der Tabakwerbung. Sogar eine knappe Mehrheit der Raucher will das Verbot.
Der Willen der Bürger wird ignoriert
Doch Kauder und seine Gleichgesinnten wie Unionsfraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer oder der wirtschaftspolitische Sprecher Joachim Pfeiffer ignorieren den Aufruf der eigenen Minister wie auch den Willen der Bürger. "Wir sehen hier ein Lehrstück des erfolgreichen Lobbyismus gegen das öffentliche Interesse, gegen den Jugendschutz, gegen die selbst gesetzten Verpflichtungen aus der Tabakrahmenkonvention und gegen jede Vernunft", sagt Frank Tempel, drogenpolitischer Sprecher der Linksfraktion.
Ein Bürger forderte vom Unionsfraktionschef eine Erklärung für die Blockade des Gesetzes. Die Antwort von Kauders Büro:
"CDU und CSU stehen [...] für eine ordnungspolitische Grundsatzentscheidung, wonach in einem freien Land auch ein freier Wettbewerb und über legale Produkte eine Kommunikation zwischen Produzenten und Konsumenten stattfinden soll", heißt es in dem Brief, der dem SPIEGEL vorliegt. "Wer hier einmal den Weg hin zu Werbeverboten einschlägt, wird auch bei anderen Produkten, zum Beispiel Alkohol oder Zucker, künftig schwerlich gegen weitere Verbote sein können."
Ähnlich argumentiert der Deutsche Zigarettenverband. Der meint, "dass ein absolutes Werbeverbot für Tabakerzeugnisse eine ordnungspolitische Grundsatzentscheidung darstellt". Der Bann wäre eine Blaupause "für alle Genussmittel, von denen potenziell gesundheitliche Gefahren ausgehen", behaupten die Lobbyisten. "Seien es zucker-, salz- oder fettreiche Lebensmittel, Softdrinks oder alkoholische Getränke."
Auf Anfrage des SPIEGEL wollte sich Kauder zur Tabakwerbung nicht äußern.
Zigarettenlobby und Werbeindustrie sind in Berlin exzellent verdrahtet
Christian Schmidt ist erbost. "Mein Ziel ist es, die Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, vor dem Rauchen, dem größten vermeidbaren Gesundheitsrisiko, zu schützen", sagt der Minister dem SPIEGEL. "Wer immer noch glaubt, mit der Tabakwerbung müsste ein Stück persönliche Freiheit verteidigt werden, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden."
Die Drogenbeauftragte Mortler fühlt sich bei ihrer Arbeit torpediert. "Es macht keinen Sinn, in den Schulen auf die Gefahren des Rauchens hinzuweisen und den Kindern dann an der Bushaltestelle mit hippen Plakaten der Tabakindustrie das Gegenteil vorzugaukeln", sagt die CSU-Frau dem SPIEGEL. Und auch Kordula Kovac, die Berichterstatterin der Unionsbundestagsfraktion im zuständigen Ausschuss, unterstützt "ausdrücklich" Schmidts Entwurf.
Doch die Zigarettenlobby wie auch die Werbeindustrie sind in Berlin exzellent verdrahtet. Seit Jahren sponsern die Nikotinversorger Veranstaltungen und Feste der Parteien. Allein Philip Morris hat zwischen 2010 und 2015 rund 544.000 Euro für Events von CDU, CSU, SPD und FDP sowie deren parteinahe Organisationen hergegeben. Es zahlt sich aus. Wie eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion zeigt, trafen sich Tabaklobbyisten in dieser Legislaturperiode mindestens 32-mal mit Spitzenvertretern der Bundesregierung: von Staatssekretären über Minister wie Schmidt oder Gabriel bis hin zum Kanzleramt.
Dort wurden am 27. Juli 2016, als das Gesetz in der Unionsfraktion lag, Vertreter des Deutschen Zigarettenverbandes, des Verbandes der Rauchtabakindustrie sowie der Hersteller Reemtsma und BAT bei Kanzleramtsminister Peter Altmaier vorstellig. Es ging um Tabakwerbung; über den genauen Inhalt schweigt sich die Regierung aus. Aber auffallend ist es schon, dass Angela Merkel kein Machtwort spricht, wenn Kauder und Co. die Minister ihres Kabinetts so düpieren.
Wie es in Berlin heißt, wollen Schmidt und Mortler noch einen Versuch starten, die Blockade zu beenden. Dabei wollen sie Kauder und die anderen CDU-Granden darauf hinweisen, dass es auch viele andere legale Produkte gibt, für die man nicht nach Belieben werben darf. Wie etwa verschreibungspflichtige Arzneimittel.
Nach heutiger Gesetzeslage darf man in Deutschland für Medikamente gegen Lungenkrebs nicht auf der Straße werben. Für Lungenkrebs erregende Zigaretten hingegen schon.
Zusammengefasst: Unter allen EU-Ländern erlaubt einzig Deutschland Tabak-Außenwerbung auf Plakaten und Litfaßsäulen. Bundesminister Christian Schmidt (CSU) will das ändern und brachte einen Gesetzentwurf ein, der 2016 im Bundeskabinett abgesegnet wurde. Doch wichtige Teile der Union blockieren das Gesetz im Bundestag.
* Name geändert