Solidarität mit Bochum Tausende demonstrieren gegen Nokia

Massen-Demo in Bochum: Tausende Gewerkschafter, Schüler und Arbeiter aus ganz Deutschland protestieren gegen die geplante Schließung des Nokia-Werks. Sie klagen vor allem eins an - die "unmenschliche" Vorgehensweise der finnischen Chefetage.
Von Carolin Jenkner

Bochum – Fünf vor zwölf. Das heißt normalerweise kurz vor Schluss, kurz vor knapp, man kann das Blatt noch wenden. Heute Mittag um fünf vor zwölf läuten die Totenglocken. Zwölf mal, vor dem Nokia-Werk in Bochum. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber es wirkt als wäre schon alles verloren.

Die Produktion im Werk steht still. Draußen stehen Tausende Menschen mit Schildern in der Hand und roten IG-Metall-Mützen auf dem Kopf. Sie sind dem Aufruf der Gewerkschaft zu einer Solidaritätskundgebung gefolgt.

"Nicht menschlich", "Ohne Skrupel", "Kein Respekt", "Im Geldrausch", "Aktionärshörig". Solche und ähnliche Sprüche stehen auf den Transparenten. "Heute Nokia, morgen XXX - jeder kann der nächste sein." Und: "Leute reiht euch bei uns ein, ihr werdet auch betroffen sein." Diesem Spruch sind viele gefolgt: von Gewerkschaften über Bürgerinitiativen bis hin zur Opel-Belegschaft aus Bochum, die heute 150 Autos weniger baut, um an der Seite der Nokianer zu kämpfen.

An die 100 Busse sind nach Bochum gefahren, um Arbeiter von VW aus Wolfsburg und von Opel aus Rüsselsheim zur Demo zu bringen. Schulklassen gehen geschlossen zur Demo. CDU, Grüne, Linkspartei und SPD schwingen alle ihre Fahnen – auch wenn Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) später Buh-Rufe erntet, als er auf der Bühne steht.

Der Mannschaftswagen des VfL Bochum ist da, nur Bochums erfolgreichster Export Herbert Grönemeyer fehlt. Aber er dröhnt später mit "Bochum, ich komm aus dir" durch die Lautsprecher und hat eine Grußbotschaft geschickt.

Aus zwei Richtungen strömen die Demonstranten auf den Riemker Markt zu. Es ist der Stadtteil, in dem das Nokia-Werk steht. Links schwappt die Menschenmenge aus der Fabrik, rechts vom Etcetera-Platz. Zusammen sind es nach Polizeiangaben 15.000 Menschen. So eine große Demo hat es zuletzt gegeben, als das Opelwerk geschlossen werden sollte. "Die Solidarität ist genauso groß wie zu Zeiten der Zechenschließungen", sagt ein Polizeisprecher.

Elsbeth Laugs, 53, Buchhalterin bei der Bahn, ist extra aus Duisburg angereist und hat sich einen Tag Urlaub genommen, um die Angestellten in Bochum zu unterstützen. "Wer weiß", sagt sie, "das kann jeden von uns treffen. Wir müssen zusammenhalten. So wie das da gelaufen ist, ist das einfach nicht menschlich."

Das ist es, wofür sie heute zusammenstehen: Menschlichkeit. Es geht um mehr als den Wegfall von Arbeitsplätzen. Bochums Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz spricht auf der Bühne am Riemker Markt von einem "Schlag ins Gesicht" für diejenigen, die als Nokia-Familie für die Gewinne des Unternehmens gearbeitet haben. "Was müssen wir noch alles tun, um die Gewinne zu verstärken?"

"So viel Unterstützung - ein tolles Gefühl"

Gisela Achenbach, Betriebsratsvorsitzende von Nokia in Bochum, sagt, dass die Arbeitnehmer genug getan haben: rund um die Uhr gearbeitet, auch in der Weihnachtswoche, Zusatzschichten und Überstunden geschoben. "Das alles haben wir mitgemacht und zum Dank will man uns jetzt rausschmeißen", ruft sie in die Menge.

Einen noch härteren Ton schlug der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber an. "Ich klage einen Weltkonzern an, der in einer ganzen Region verbrannte Erde hinterlässt, weil er die Rendite ins Unermessliche steigern will." Der sonst so moderate Gewerkschafter rief Worte wie "Wildwestkapitalismus" und "Wirtschaften aus dem Irrenhaus" in die Menge.

Trotz Wut wollen alle noch eins: verhandeln. "Die gesamte IG Metall ist bereit zu verhandeln", sagte Huber. Auch für die Oberbürgermeisterin und die politischen Parteien ist das letzte Wort in Sachen Werksschließung nicht gesprochen. Wirtschaftsstaatssekretär Hartmut Schauerte sagte, die Bundesregierung verfolge weiter das Ziel, die Entscheidung ganz oder in Teilen zu verändern. Das Ganze sei ein "unerträglicher Vorgang".

"Es tut einem gut ums Herz, wenn man so viele Menschen hinter sich stehen hat", sagt Gisela Achenbach. Und das ist es vielleicht, was die Demo bewirkt hat: Wenn sie die Schließung des Nokia-Werkes wahrscheinlich auch nicht verhindern kann – den Beschäftigten hat es etwas gebracht. "Man fühlt sich nicht so alleine", sagt Kerstin, 40, die seit 13 Jahren bei Nokia angestellt ist. "Und es ist ein tolles Gefühl, so viel Unterstützung zu bekommen."

Dass sie wirklich ihren Job verliert, glaubt sie erst, wenn sie ihren Passierausweis abgeben muss. Nach den Plänen von Nokia ist das schon in ein paar Monaten.

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