Soziale Marktwirtschaft Arm durch Arbeit - die neue Ausbeutung

Viele Arbeitnehmer erleben die Globalisierung als Verlustbringer: Wohlstand ist für sie ein Traum, der sich mit ehrlicher Arbeit nicht mehr verwirklichen lässt. Das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft schwindet.

Mit vielem hat sich Matthias Rolle arrangiert in seinem langen Berufsleben: Die quälenden Nachtschichten von abends elf bis morgens um sieben, das stundenlange Stehen mit Wollpullover und Thermoweste in einer fünf Grad kalten Kühlhalle, der ständige Blutgeruch von frischem Fleisch. Auch dass er als Schichtarbeiter während der Woche Frau und Kind kaum sieht, hat er gelernt zu ertragen. "Das Familienleben", sagt er, "findet eben am Wochenende statt."

Mit einem aber mag der Dresdner Fleischer sich nicht abfinden. Er arbeitet nicht selten 40 Stunden die Woche und mehr, aber es kommt immer weniger dabei heraus. Matthias Rolle legt einen dreifach gefalteten DIN-A4-Zettel auf den weißen Campingtisch. Es ist seine Verdienstbescheinigung.

Brutto bekommt er im Monat rund 1600 Euro. Nach allen Abzügen bleiben unter dem Strich gut 1200 Euro übrig. Das ist kaum mehr, als mancher Hartz-IV-Empfänger nach Hause bringt. Sein Gehalt ist schon seit Jahren nicht gestiegen, gleichzeitig werden Strom und Lebensmittel immer teurer. "Wohlstand ist ein Traum", sagt er, "der mit ehrlicher Arbeit nicht mehr zu verwirklichen ist."

Die triste Bilanz des Schichtarbeiters deckt sich mit der Erfahrung von Millionen Menschen im Land. Sie arbeiten hart und kommen doch kaum über die Runden. Was sie verdienen, reicht immer weniger zum Leben. Wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte haben die Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren materielle Einbußen hinnehmen müssen.

Bei den meisten stagniert der Verdienst seit Jahren. Immer mehr müssen wieder 40 Stunden oder mehr die Woche arbeiten, immer weniger haben Anspruch auf betriebliche Sonderleistungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Seit 15 Jahren sind die realen Bruttoverdienste der Arbeitnehmer praktisch nicht mehr gewachsen.

Partiell rechtsfreie Wildwest-Ökonomie

Wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe haben die abhängig Beschäftigten das vergangene Jahrzehnt als Verlustphase erlebt. Einkommen, Jobs, Abgaben: Überall stand ein dickes Minus vor der Bilanz. Das galt besonders für jene Werktätigen, die als Bauhelfer, Bandarbeiter oder Lkw-Fahrer auf den unteren Etagen der Verdienstskala angesiedelt waren.

Sie mussten mit ansehen, dass sie am Monatsende oft kaum mehr im Portemonnaie hatten als mancher Fürsorgebezieher. Sie mussten erleben, wie sich ihre einst mit Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen geregelte Arbeitswelt in eine partiell rechtsfreie Wildwest-Ökonomie verwandelte. Sie mussten hinnehmen, dass sie in vielen Berufen nur noch als Zeitarbeiter, Minijobber oder Scheinselbstständige gefragt waren.

Der Niedriglohnsektor, der lange Zeit als unterentwickelt galt, wächst seit Jahren. Mittlerweile arbeiten nach einer Studie der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit fast vier Millionen Deutsche zu Löhnen, die weniger als zwei Drittel des Durchschnittsverdienstes erreichen. Das ist ein Zuwachs von zehn Prozent innerhalb weniger Jahre.

Bei manchen Armutslöhnern reicht das Gehalt nicht mal mehr aus, wenigstens das Existenzminimum zu decken. Fast eine halbe Million Bundesbürger verdienen mit ihrer Vollzeitstelle so wenig Geld, dass sie zusätzliche finanzielle Unterstützung in Form von Arbeitslosengeld II benötigen.

Nicht nur, dass immer mehr Deutsche in die Zone materieller Bedrängnis abrutschen, sie finden auch immer seltener wieder heraus. Wer einmal in die Verliererregion aus Niedriglohnjobs und Hartz IV eingetaucht ist, bleibt ihr mit einiger Sicherheit dauerhaft erhalten, zeigt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Zwei Drittel aller Armutslöhner sind auch fünf Jahre später noch Armutslöhner, lediglich ein Drittel schafft den Sprung zu einem besser bezahlten Job.

Der Exportweltmeister darf sich damit einer weiteren, eher fragwürdigen internationalen Spitzenstellung rühmen: In keinem anderen Land Europas finden Geringverdiener so schlechte Aufstiegschancen vor wie hierzulande.

Es geht um mehr als ein paar Euro

Längst hat die Erosion der Arbeitnehmereinkommen das soziale Klima im Land verändert. In der Unterschicht breitet sich das Gefühl aus, dauerhaft von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt zu sein. In der Mittelschicht wiederum fürchten viele, möglicherweise bald selbst in die gesellschaftliche Verliererregion abzusteigen.

Von einem "Klima der Verunsicherung" sprechen Soziologen, seit die Entlassungswellen der großen Konzerne auch die Büroflure entvölkern und sich vermehrt Angestellte oder kleine Unternehmer in den Büros der Schuldnerberatungen drängen. 72 Prozent der Deutschen beunruhigt, dass selbst in Firmen, denen es gut geht, die Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind.

Es geht um mehr als um ein paar Euro zusätzlich in der Lohntüte. Es geht um das Vertrauen in die ökonomische und gesellschaftliche Grundordnung der Republik. Noch vor wenigen Jahren galt die soziale Marktwirtschaft als Garant für ökonomisches Wachstum und gesellschaftlichen Ausgleich. Heute glauben nach Erkenntnissen der Meinungsforscher nur noch 28 Prozent der Bundesbürger, dass es gerecht zugeht im Land.

Wo die Ursachen für die verbreitete Unzufriedenheit zu suchen sind, verrät die amtliche Lohn- und Verteilungsstatistik. Mitten im stärksten weltwirtschaftlichen Aufschwung seit Jahrzehnten sind Deutschlands Arbeitnehmer einer Zangenbewegung ausgesetzt, die viele als Anschlag auf den eigenen Lebensstandard erleben. Zum einen nimmt der Staat den Arbeitnehmern erhebliche Teile ihres Einkommens in Form von Steuern und Beiträgen ab, um seine Sozialsysteme zu finanzieren. Das mindert den Nettoverdienst.

Zum anderen schwächt der globale Kapitalismus die wirtschaftliche Position der abhängig Beschäftigten. Was Karl Marx bereits vor 150 Jahren als "rasende Jagd der Bourgeoisie über die ganze Erdkugel" beschrieb, hat heute eine neue Etappe erreicht. Die Opfer sind die Arbeitnehmer in den alten Industrieländern, die ohnmächtig mit ansehen müssen, wie sie die neue Weltwirtschaftsordnung einer bislang unbekannten Konkurrenz aussetzt – und ihre Bruttolöhne drückt.

"Giftiges Gemisch aus Ungleichheit und niedrigen Löhnen"

Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und Indiens sowie der Fall des Eisernen Vorhangs führen dem Weltmarkt ein Millionenreservoir billiger Arbeitskräfte zu. Konkurrenz belebt das Geschäft, aber sie drückt die Preise – auch diejenigen für die Ware Arbeitskraft. Wer bislang als einfacher Arbeiter in der Textil-, Elektronik- oder Gebrauchsgüterindustrie Europas oder Nordamerikas sein Auskommen fand, sieht sich nun oft vor eine höchst unangenehme Alternative gestellt: Entweder er akzeptiert einen niedrigeren Lohn – oder sein Job wandert ins Ausland.

In vielen der alten Industrienationen erwies sich die Globalisierung für die Arbeitnehmer so als "giftiges Gemisch aus Ungleichheit und niedrigen Löhnen", wie der liberale Londoner "Economist" feststellt. Kaum irgendwo aber war der Anpassungsdruck so groß wie in der Bundesrepublik, wo die Arbeitskosten im Gefolge der deutschen Vereinigung auf ein weltweites Spitzenniveau geklettert waren.

Es begann jener Prozess, den Ökonomen auf den verniedlichenden Begriff der "Lohnzurückhaltung" getauft haben. Das klingt nach vornehmer Bescheidenheit und einsichtsvollem Verzicht. Tatsächlich büßten die Arbeitnehmer weit mehr von ihrem Lebensstandard ein, als nötig gewesen wäre.

Denn nach den Faustregeln der Ökonomie hätten die Einkommen im vergangenen Jahrzehnt um 2,5 Prozent pro Jahr steigen dürfen. Um diesen Wert nämlich legte die Wirtschaftsleistung zu, die ein Beschäftigter im Schnitt erzeugte. Tatsächlich aber sanken die realen Nettoverdienste pro Arbeitnehmer im Schnitt um 0,5 Prozent jährlich.

Die Differenz strichen die Unternehmen und der Staat ein. Ihr Gewinn addierte sich, über das gesamte zurückliegende Jahrzehnt gerechnet, auf die ansehnliche Summe von rund 250 Milliarden Euro. Immerhin: Was die Beschäftigten einbüßten, nutzte der Wirtschaft insgesamt. So gering war der Lohnanstieg in den vergangenen Jahren, dass er dauerhaft hinter dem Wachstum der Produktivität zurückblieb; ganz anders als in Ländern wie Frankreich, Italien oder den USA.

Ausgerechnet die deutschen Arbeitnehmer: ein Standortvorteil

Entsprechend wurden die deutschen Unternehmen auf den Weltmärkten immer wettbewerbsfähiger. Maschinenbau, Chemie, Autoindustrie: die Vorzeigebranchen der Republik nutzten die günstige Entwicklung der heimischen Arbeitskosten, um von einem Exportrekord zum nächsten zu eilen.

Erst wuchsen die Umsätze im Auslandsgeschäft, dann legten die Investitionen im Inland zu, und mittlerweile zeigt auch der notorisch erstarrte Arbeitsmarkt ungewohnte Lebenszeichen. Vom Mittelstand bis zur Großindustrie kündigen die Unternehmen mittlerweile an, wieder neues Personal einstellen zu wollen.

Von einem "Lohnkostenwunder" sprechen mittlerweile die Ökonomen und signalisieren damit zweierlei: Erstens, die jüngste wirtschaftliche Erholung kommt kaum weniger überraschend als der mirakulöse Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Weltkrieg.

Zweitens, die Belebung ist vor allem jenen zu verdanken, die mit ihrem Konsum- und Wohlstandsopfer die Kostenseite der heimischen Unternehmensbilanzen wieder in Ordnung gebracht haben. Ausgerechnet die deutschen Arbeitnehmer, die jahrelang als zu bequem, zu unflexibel und zu teuer verspottet wurden, gelten plötzlich wieder als Standortvorteil.

Ein Trost ist das nicht – zu ungleich sind die Früchte des Aufschwungs verteilt. Während Aktienkurse, Gewinne und Managergehälter explodieren, haben die Lohnzuwächse in den vergangenen Jahren vielfach nicht einmal die Preissteigerung ausgeglichen. "Wenn wir es klassenkämpferisch ausdrücken, haben wir in den letzten Jahren eine Umverteilung von Arbeit zu Kapital gesehen", sagt der Frankfurter Commerzbank-Volkswirt Ralph Solveen.

Was die Arbeitnehmer nicht weniger erboste: Die sogenannte Deregulierung der Wirtschaft fand vor allem bei ihnen statt. Mehr Zeitarbeit, mehr befristete Beschäftigung, weniger Kündigungsschutz: die Regeln für das abhängige Beschäftigungsverhältnis wurden in den vergangenen Jahren auf vielerlei Weise gelockert. Bei Freiberuflern wie Architekten oder Anwälten dagegen gelang es nicht einmal, die staatlichen Preis- und Honorarordnungen abzuschaffen.

Vom Sozialstaat über den Tisch gezogen

Nirgends herrsche so wenig Wettbewerb wie in den privilegierten Schutzzonen akademischer Berufe, pflegte etwa der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement zu klagen. Die Einbußen der Arbeitnehmer waren zu einem guten Teil der schlechten Konjunktur und der Globalisierung geschuldet.

Für den vierten Schwundfaktor aber sorgte der Staat. Um das ausgedehnte Netz der sozialen Sicherung zu finanzieren, erhöhte er die Beiträge für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung und bat die Bevölkerung zusätzlich durch höhere Umsatz- und Mineralölsteuern zur Kasse. Wie ein Keil schoben sich die staatlichen Abgaben zwischen die Brutto- und Nettoverdienste und sorgten dafür, die ohnehin geringen Lohnzuwächse weiter einzudampfen.

Die Beschäftigten trugen zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaates mehr bei als andere Bevölkerungsgruppen – und schnitten finanziell oft schlechter ab als diejenigen, die von ihren Beiträgen lebten. In der Arbeitswelt mussten die abhängig Beschäftigten die Kosten der Globalisierung tragen. Noch bitterer aber war für sie die Erkenntnis, dass sie auch im Sozialstaat über den Tisch gezogen wurden.

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