20 Jahre Mauerfall Ost und West driften wieder auseinander

Schaufenster in Magdeburg: "Keine weiteren schnellen Angleichungen absehbar"
Foto: ddpHamburg - Im November jährt sich der Mauerfall zum 20. Mal. Für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist dies Anlass, eine ökonomische Bilanz der Wiedervereinigung zu ziehen. An diesem Donnerstag stellten die Wissenschaftler in Berlin eine entsprechende Studie vor - das Ergebnis ist ernüchternd.
Laut DIW klaffen die Einkommen in Ost und West immer noch auseinander. In jüngster Zeit geht die Schere sogar noch weiter auf. Besonders deutlich werden die Unterschiede jedoch auf der Gefühlsebene: In Umfragen beurteilen die Ostdeutschen ihre Lebensverhältnisse weit schlechter als die Westdeutschen - oft sogar schlechter, als es die tatsächliche Einkommenssituation vermuten lässt.
Dabei war die Annäherung der Lebensverhältnisse in Ost und West das erklärte Ziel aller Regierungen seit 1990 - von Helmut Kohl über Gerhard Schröder bis Angela Merkel. Auch heute noch, 20 Jahre nach dem Mauerfall, gibt es in der Bundesregierung einen eigenen Beauftragten für den Aufbau Ost: Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD).
Trotzdem kann von gleichen Lebensverhältnissen bei weitem keine Rede sein. Was ist schiefgelaufen bei der Wiedervereinigung?
Fest steht: Anfang der neunziger Jahre gab es noch "deutliche Angleichungsfortschritte", wie die DIW-Autoren in ihrer Studie schreiben. Doch schon in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre verlangsamte sich der Aufholprozess in den neuen Bundesländern. Im neuen Jahrtausend stagnierte die Entwicklung dann völlig - bis sie sich 2008 sogar umkehrte: Im vergangenen Jahr verschlechterte sich die Einkommensrelation zwischen Ost und West wieder (siehe Tabelle).
So weit liegen die Einkommen auseinander *
1990 | 1997 | 2008** | |
---|---|---|---|
Deutschland (in Euro) | - | 1327 | 1390 |
West (in Euro) | 1343 | 1373 | 1444 |
Ost (in Euro) | 835 | 1137 | 1149 |
Relation Ost-West (in Prozent) | 62,2 | 82,8 | 79,6 |
** 2008 vorläufige Zahlen; Quelle: DIW, SOEP
Seit 2000 sind die Realeinkommen der privaten Haushalte in beiden Landesteilen gesunken. "Davon waren die Einkommen in Ostdeutschland überproportional betroffen", schreiben die Wissenschaftler. Das heißt: Der Abstand zum Westen ist wieder gewachsen. Auch für die kommenden Jahre seien "derzeit keine weiteren schnellen Angleichungen absehbar".
Dabei ist das Haushaltsnettoeinkommen nur eine von mehreren Messzahlen, um die ökonomische Situation einer Bevölkerungsgruppe zu erfassen. Noch größere Bedeutung messen die DIW-Forscher jedoch den sogenannten subjektiven Indikatoren bei. Diese werden über Umfragen ermittelt: Wie glücklich sind Sie mit Ihrem Leben? Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeit, Ihrer Freizeit, Ihrer Wohnung?
Die Menschen in den neuen Bundesländern sind unzufriedener
Auch hier sprechen die Ergebnisse eine deutliche Sprache. So hat die Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland zwar zugenommen - "ohne jedoch jemals das höhere Zufriedenheitsniveau in Westdeutschland zu erreichen", erklären die DIW-Ökonomen. Das zeigt sich - verständlicherweise - vor allem bei der Beurteilung des eigenen Einkommens, aber auch des Lebensstandards oder der Gesundheit. Nur bei der Wohnung und bei der Freizeit haben sich die Zufriedenheitskurven in Ost und West tatsächlich angenähert (siehe Grafiken in der linken Spalte oben).
Bemerkenswert: Sowohl die West- als auch die Ostdeutschen sind mit ihrer eigenen Arbeit immer seltener zufrieden. In den vergangenen Jahren sind beide Kurven fast parallel gefallen. Ein Sonderfall ist außerdem die Kinderbetreuung: Sie ist der einzige abgefragte Bereich, in dem Ostdeutsche zufriedener sind als Westdeutsche. Angesichts der besseren Ausstattung mit Kindertagesstätten in den neuen Bundesländern ist dies aber kaum verwunderlich.
Insgesamt erbringen die Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern derzeit 78 Prozent der Wirtschaftsleistung im Westen. "Bei der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit hat es enorme Fortschritte gegeben", sagte DIW-Präsident Klaus Zimmermann am Donnerstag in Berlin. Die Riesensummen, die in den Osten geflossen seien, hätten sich gelohnt. Gleichzeitig warnen die Forscher aber, dass die ostdeutsche Wirtschaft der westdeutschen noch lange hinterherhinken werde.
Die meisten Ostdeutschen fühlen sich immer noch als Arbeiter
In einem Punkt immerhin sind sich Ost und West recht ähnlich: In beiden Landesteilen geht die Schere zwischen Arm und Reich auseinander. 1990, kurz nach dem Zusammenbruch der sozialistischen DDR, war das Ausmaß der Ungleichheit in Ostdeutschland noch gering. Mittlerweile haben sich jedoch die klassischen Bevölkerungsschichten einer kapitalistischen Gesellschaft herausgebildet. "Die Verteilung der Realeinkommen in Ostdeutschland hat sich schrittweise an die Entwicklung im Westen angeglichen", heißt es in der DIW-Studie (siehe Tabelle).
So sind die Einkommen in Ost und West verteilt (2008)
Bevölkerungsschicht | Anteil in Prozent |
---|---|
West reichste 5 Prozent | 12,9 |
West reichste 10 Prozent | 21,8 |
West reichste 20 Prozent | 36,2 |
West mittlere 50 Prozent | 45,0 |
West ärmste 20 Prozent | 9,3 |
West ärmste 10 Prozent | 3,8 |
West ärmste 5 Prozent | 1,6 |
Ost reichste 5 Prozent | 11,5 |
Ost reichste 10 Prozent | 19,7 |
Ost reichste 20 Prozent | 34,1 |
Ost mittlere 50 Prozent | 46,4 |
Ost ärmste 20 Prozent | 9,8 |
Ost ärmste 10 Prozent | 4,1 |
Ost ärmste 5 Prozent | 1,7 |
Allerdings gibt es immer noch merkliche Unterschiede, vor allem subjektiv. So stufen sich die Ostdeutschen mehrheitlich in die Arbeiterklasse ein - obwohl die tatsächliche Einkommensverteilung dem nicht unbedingt entspricht. Experten sprechen von einer pyramidenförmigen Schichtstruktur. Dagegen ergibt die Selbsteinschätzung der Westdeutschen eine Zwiebelform - typisch für eine Mittelschichtsgesellschaft (siehe Tabelle).
Subjektive Selbsteinschätzung in Ost und West (2008)
Ostdeutschland | (in Prozent) | Westdeutschland | (in Prozent) | |
---|---|---|---|---|
Oberschicht, obere Mittelsch. | 4 | 12 | ||
Mittelschicht | 46 | 57 | ||
Arbeiterschicht, Unterschicht | 51 | 31 |
Das Besondere daran: Seit der Wiedervereinigung haben sich die Werte kaum verschoben. "Der Zeitvergleich macht deutlich", schreiben die DIW-Wissenschaftler, "dass sich die unterschiedlichen Bilder der Selbstwahrnehmung innerhalb der Gesellschaft trotz aller objektiven Veränderungen in Ostdeutschland nur langsam angleichen." Dass in den neuen Bundesländern "angesichts der vielfältigen biografischen Umbrüche vielerorts noch an stereotypen Werten und Orientierungen festgehalten wird, erscheint individuell nachvollziehbar".
Das Gleiche gilt für das Gerechtigkeitsempfinden in den neuen und den alten Bundesländern. Die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen fühlt sich nicht gerecht entlohnt. Bei den Westdeutschen hingegen hält die Mehrheit ihr Einkommen für angemessen (siehe Tabelle).
So gerecht fühlen sich die Deutschen entlohnt (2008)*
gerecht (in Prozent) | ungerecht (in Prozent) | ||
Westdeutschland | 60 | 40 | |
Ostdeutschland | 32 | 68 |
Dabei gibt es ebenfalls Verschiebungen im Zeitverlauf. Anfang der neunziger Jahre war die empfundene Gerechtigkeitslücke zwischen Ost und West besonders groß. Danach fand eine Annäherung statt - die aber nur von kurzer Dauer war. "Inzwischen wird das Thema soziale Gerechtigkeit wieder kritischer gesehen", schreiben die Studienautoren.
Insgesamt sprechen die DIW-Experten von "beachtenswerten Angleichungsfortschritten zwischen Ost und West", die sich aber "zumeist verlangsamten". Bei einzelnen Indikatoren seien keine Ost-West-Unterschiede mehr zu erkennen, bei anderen "scheint sich der Abstand zwischen Ost und West wieder vergrößert zu haben".
Zu den Gründen der Entwicklung äußern sich die DIW-Autoren nicht, ebenso wenig geben sie Handlungsempfehlungen für die Politik. Nur so viel: "Verteilungsfragen kommt im weiteren Anpassungsprozess nach wie vor eine besondere Bedeutung bei."