Statistiktricks So wird die Arbeitslosigkeit schöngerechnet

Zeichnet die offizielle Statistik ein geschöntes Bild vom Arbeitsmarkt? Tatsächlich gelten viele nicht als arbeitslos, obwohl sie Arbeit suchen. Verschwiegen werden sie nicht - aber man muss nach ihnen suchen.
Hier geht's zur Arbeitsagentur in Sangerhausen (Sachsen-Anhalt)

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Foto: Jan Woitas/ dpa

Jeden Monat veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit (BA) die neuesten Arbeitslosenzahlen, wie auch an diesem Mittwoch geschehen. Und jeden Monat melden sich Opposition und Sozialverbände mit fundamentaler Kritik: Schönfärberei. In Wirklichkeit seien wesentlich mehr Menschen arbeitslos, doch die Regierung rechne sie mit allerlei Tricks aus der offiziellen Statistik heraus.

Stimmt das? Zeichnet die offizielle Statistik tatsächlich ein geschöntes Bild vom Arbeitsmarkt? Die Antwort: Ja und Nein.

Ja, weil tatsächlich mehr Menschen de facto arbeitslos sind, als die BA offiziell als "arbeitslos" ausweist.

Nein, weil die BA jeden Monat stets zusammen mit der offiziellen Arbeitslosenzahl - durchaus nicht versteckt - eine weitere Zahl veröffentlicht, die ein realistischeres Bild des Arbeitsmarkt zeichnet. Und weil zusätzliche amtliche Schätzungen, die für das vollständige Bild der Arbeitslosigkeit wichtig sind, ebenfalls ohne Probleme im Internet allgemein zugänglich sind.

Wie groß ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland also wirklich - und welche Personen sollten dazu gezählt werden? Eine Rechnung für den Februar 2017:


1. DIE OFFIZIELL ARBEITSLOSEN


Wer offiziell als arbeitslos zu gelten hat, ist im Sozialgesetzbuch geregelt. Grundsätzlich gehören Menschen dazu, die

  • sich bei der BA arbeitslos gemeldet haben (und für ihre Vermittlung zur Verfügung stehen) und
  • gar nicht oder weniger als 15 Stunden pro Woche arbeiten und
  • einen sozialversicherungspflichtigen Job suchen.

Im Prinzip eignen sich diese Kriterien nicht dazu, die Arbeitslosigkeit kleinzurechnen. Das beweist ein Vergleich mit dem Standard der Internationalen Arbeitsorganisation Ilo, einer Uno-Organisation: Nach dem Ilo-Standard reicht es schon, eine einzige Stunde in der Woche zu arbeiten, um als erwerbstätig zu gelten und aus der Statistik zu fallen. In Deutschland hingegen gelten auch Menschen mit einem 14-Stunden-Job als arbeitslos.

Im Februar 2017 trafen diese Kriterien auf rund 3,76 Millionen Menschen zu. Trotzdem lag die Zahl der offiziell Arbeitslosen um eine Million niedriger, nämlich bei 2,76 Millionen Menschen.

Aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik werden also relativ viele Menschen herausgerechnet. Noch weit niedriger ist aber die Zahl, wenn man den Ilo-Standard anwendet: Dann sind nämlich nur 1,76 Millionen Menschen arbeitslos. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn Arbeitslosigkeit international verglichen wird. Auch die europäische Statistikbehörde Eurostat oder die Industrieländerorganisation OECD verwenden den Ilo-Standard. Das bedeutet: Die ohnehin erschreckend hohe Arbeitslosigkeit in Griechenland oder Spanien wäre nach deutscher Berechnung noch deutlich höher.


2. WEITERE UNTERBESCHÄFTIGTE


Wie gesehen, gelten fast eine Million Menschen in Deutschland offiziell nicht als arbeitslos, obwohl sie die Kriterien dafür erfüllen. Sie gelten lediglich als unterbeschäftigt. Dazu zählen Menschen, die

  • an einer Maßnahme der aktiven Arbeitsmarktpolitik teilnehmen oder
  • vorübergehend krank sind (also absehbar wieder arbeitsfähig sind) oder
  • älter als 58 Jahre alt sind und Hartz IV beziehen.
  • Zu den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zählen zum Beispiel:

    • Aktivierung und Eingliederung: Bewerbungstrainings
    • Weiterbildung: Lehrgänge, um beruflich auf dem aktuellen Stand zu bleiben
    • Fremdförderung: Sprachkurse, Integrationskurse
    • Weitere Maßnahmen: Ein-Euro-Jobs, Lohnzuschüsse

    Nur bei einem relativ kleinen Teil dieser Personengruppe scheint es sinnvoll, sie aus der offiziellen Arbeitslosigkeit herauszurechnen - etwa bei jenen knapp 19.000 Menschen, die Arbeitsplätze haben, für die der Arbeitgeber Lohnzuschüsse von der BA erhält (sie werden unter "weitere Maßnahmen" mit ausgewiesen). Und nur mit gutem Willen nachvollziehbar ist es, Teilnehmer von Sprach- und Integrationskursen (unter "Fremdförderung" ausgewiesen) herauszurechnen - wie etwa den Großteil der arbeitsfähigen Flüchtlinge, die im Jahr 2015 nach Deutschland kamen.

    Der überwiegende Teil der "weiteren Unterbeschäftigten" ist jedoch zweifelsfrei arbeitslos: der Teilnehmer an einem zweiwöchigen Bewerbungstraining ebenso wie die Hartz-IV-Empfängerin mit einem Ein-Euro-Job. Und die Regelung, Hartz-IV-Bezieher über 58 Jahren einfach aus der Statistik zu streichen, wenn ihnen ein Jahr lang kein Job angeboten wurde, ist Schönfärberei in Reinform.

    Damit waren im Februar 2017 eben nicht 2,76 Millionen Menschen, sondern mindestens 3,76 Millionen Menschen arbeitslos.

    Was man der BA aber nicht vorwerfen kann: dass sie diese Zahl verstecken würde. Sie veröffentlicht sie - stets gemeinsam mit den offiziellen Arbeitslosenzahlen - als sogenannte Unterbeschäftigung. Für den Februar 2017 gibt sie 3,76 Millionen Menschen als unterbeschäftigt an, weil sie auch Menschen mitzählt, die sich derzeit mit einem Gründungszuschuss der BA selbstständig machen. Auch SPIEGEL ONLINE übernimmt die Zahl der Unterbeschäftigten in die Arbeitslosenmeldungen - stets verbunden mit dem Hinweis, dass sie die Arbeitslosigkeit besser abbildet.

    Doch auch diese Zahl gibt noch nicht das volle Ausmaß der Arbeitslosigkeit an.


    3. STILLE RESERVE


    Zur stillen Reserve zählen Menschen, die sich zwar nicht arbeitslos melden - die aber durchaus bereit wären, eine Arbeit aufzunehmen. Das trifft zum Beispiel auf Menschen zu, die bislang nicht gearbeitet haben und keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, weil etwa der Ehepartner zu viel verdient. Eine andere Personengruppe hat die Suche nach Arbeit resigniert aufgegeben, würde sie aber wieder aufnehmen, wenn es wieder freie Stellen in ihrem Bereich gäbe.

    Wie viele Menschen zur stillen Reserve gehören, kann nicht exakt beziffert werden, weil sie sich ja nicht arbeitslos melden. Ihre Zahl wird daher geschätzt, dafür gibt es mehrere statistische Methoden. Daher kommt das Statistische Bundesamt zu anderen Ergebnissen als das Forschungsinstitut der BA, das IAB - zudem müssen die Schätzungen oft auch Jahre rückwirkend stark korrigiert werden. Ein Beispiel: Für das Jahr 2012 schätzte das IAB die stille Reserve ursprünglich auf 567.000 Menschen - nach jüngster Schätzung waren es damals aber lediglich 107.000 Menschen.

    Anders als bei der Unterbeschäftigung ist es daher seriös, wenn die BA die stille Reserve in ihren Statistiken zur Arbeitslosigkeit nicht veröffentlicht - es ist schlicht nicht möglich, ihre Zahl auch nur annähernd exakt anzugeben. Dennoch gibt es sie, und auch die Menschen in der stillen Reserve sind arbeitslos.

    Für das Jahr 2017 schätzt das IAB die stille Reserve aktuell auf 134.000 Menschen. In der folgenden Grafik ist sie mit aufgeführt - sie muss aber als Größenordnung, nicht als exakte Zahl begriffen werden.

    Im Februar 2017 waren in Deutschland also fast vier Millionen Menschen arbeitslos - und nicht die 2,76 Millionen, die offiziell als arbeitslos bezeichnet werden.

    Und dennoch ist die Lage derzeit weitaus besser, als sie es noch vor zehn Jahren war. Denn bereits damals galten im Prinzip die gleichen Regeln, nach denen Menschen aus der Statistik herausgerechnet wurden - das gängige Vorurteil, die Regierung würde permanent an der Statistik drehen, ist falsch. Die folgende Grafik zeigt, wie sehr sich die Arbeitslosigkeit seit 2005 verringert hat - von damals fast sieben Millionen Menschen auf derzeit knapp vier Millionen Menschen.

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