Arbeitsmarkt Mindestlohn wird zum Wahlkampf-Schlager
Hamburg - Deutschland steht vor der Wahl - für oder gegen einen . Denn nie zuvor haben sich die Parteien in einem Bundestagswahlkampf so klar positioniert: Die Union und die FDP lehnen eine allgemeine gesetzliche Lohnuntergrenze vehement ab, die SPD, die Grünen und die Linken dagegen sind dafür. Und so könnte man bei den Wahlkampfveranstaltungen in diesen Tagen fast den Eindruck gewinnen, dass es nun um alles oder nichts geht - um mehr Wohlstand, eine bessere Verteilung von Geld und mehr Gerechtigkeit für Niedriglohn-Jobber.
Fakt ist: In Deutschland arbeiten immer mehr Menschen für Niedriglöhne. Laut einer kürzlich vorgelegten Untersuchung des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg arbeiten derzeit 6,5 Millionen Arbeitnehmer für einen geringen Lohn. Damit ist die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten seit 1995 um 2,1 Millionen gestiegen. Ihr Stundenlohn liegt unterhalb der Schwelle von 9,62 Euro in Westdeutschland und 7,18 Euro in Ostdeutschland. Das ist die wissenschaftlich anerkannte Niedriglohngrenze, die die Wirtschaftsorganisation OECD festgelegt hat. Viele der Niedriglohn-Jobber arbeiten in Vollzeit - und können trotzdem nicht von ihrem Lohn leben.
Für die Union und die FDP ist eine schlecht bezahlte Arbeit trotzdem immer noch besser, als ohne Job dazustehen. Die linken Parteien sind da anderer Meinung. Sie fordern, dass der Lohn zum Leben reichen müsse. Und das geht ihrer Auffassung nach nur mit einem Mindestlohn.
Doch was denkt Deutschland über einen gesetzlichen Mindestlohn? SPIEGEL ONLINE hat verschiedene Menschen gefragt, warum sie sich für oder gegen eine Lohnuntergenze aussprechen. Die Ansichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist der Unternehmer, der sich keine Löhne vom Staat diktieren lassen will, oder der Ingenieur, der es für menschenunwürdig hält, wenn man neben dem Vollzeitjob noch Geld vom Staat braucht. Und nicht zuletzt die zwei Wissenschaftler - der eine sieht in einem Mindestlohn die Lösung vieler wirtschaftlicher Probleme, der andere glaubt, dass eine gesetzliche Lohnuntergrenze Probleme erst schafft.
Lesen Sie, wie die unterschiedlichen Meinungen ausfallen.
PRO Der Unternehmer: "Lohnspirale nach unten stoppen"
"In meinem Berufsalltag sehe ich immer wieder, dass in den unterschiedlichsten Branchen Tarifvereinbarungen kaum noch zustande kommen. Das führt dazu, dass in vielen Bereichen nur noch so viel gezahlt wird, wie der Chef es gerade will. So werden in Ostdeutschland teilweise nur noch Löhne von fünf Euro oder weniger gezahlt. Wie sollen die Angestellten denn trotz Vollzeitstelle davon leben können?
Weil das unmöglich ist, müssen die Beschäftigten aufstocken, also ergänzend Arbeitslosengeld II beantragen. Aber da frage ich mich doch, warum sich eine Unternehmergattin oder ein Arzt zum Beispiel die Haare billig schneiden lassen soll - und der Staat subventioniert das?
Für mich wäre es daher viel naheliegender, dass ein allgemeiner, gesetzlicher Mindestlohn eingeführt würde, der dann für alle Berufsgruppen gilt. Dadurch würde das Aufstockerproblem sicherlich gelöst. Dass dadurch Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut und ins Ausland verlagert werden, wie ja immer wieder von vielen proklamiert wird, ist für mich kein nachvollziehbares Argument. Denn kaum ein Kunde fährt extra nach Polen, um ein Stück Fleisch bei seinem Metzger zu kaufen oder sich die Haare schneiden zu lassen.
Daneben wäre ein allgemeiner Mindestlohn auch transparenter als das, was wir derzeit haben. Wenn man zehn unterschiedliche Lohnuntergrenzen hat, kann man sie ja kaum kontrollieren. Wie hoch der Mindestlohn sein sollte, möchte ich aber nicht entscheiden. Das wäre Sache eines unabhängigen Expertengremiums, das gänzlich politikfern sein müsste. Dieses Gremium müsste dann eine Lohnuntergrenze finden, die mit Augenmaß gemessen wird - und nicht übertrieben hoch oder niedrig sein dürfte.
Für Gebäudereiniger - also für meine Mitarbeiter - gibt es ja schon seit längerem einen Mindestlohn. Und ich muss sagen: Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Die Lohnspirale nach unten wurde gestoppt und inzwischen findet ein Wettbewerb über die Qualität statt - und nicht über das Preisniveau."
PRO Der Angestellte: "Kein Wettbewerb über Lohndumping"
"Ich arbeite in einem Betrieb, in dem bis vor zwei Jahren noch Löhne von 5,40 Euro bis 6,64 Euro für die meisten Mitarbeiter gezahlt wurden. Viele meiner Kollegen mussten ihr Gehalt mit Hilfe der Arbeitsagentur aufstocken. Und das bei Schichtarbeit und teilweise belastenden Arbeitsbedingungen in der Großbäckerei. Wenn ein solcher Vollzeitjob zum Leben nicht ausreicht, dann ist das für mich menschenunwürdig.
Deshalb haben wir damals einen Betriebsrat gegründet, uns in der Gewerkschaft organisiert und für höhere Löhne gekämpft. Mittlerweile gibt es einen Tarifvertrag, der in der untersten Lohnebene jedem Arbeitnehmer einen Lohn von mindestens 7,51 Euro garantiert. Die Erfahrung vor der Tarifzeit hat mich davon überzeugt, dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro brauchen. Eigentlich sind sogar neun Euro notwendig, um vernünftig leben zu können.
Ohne Mindestlohn wird die Kluft zwischen Arm und Reich meiner Meinung nach immer größer. Klar, ein Mindestlohn, oder wie in meinem Betrieb, ein höherer Tariflohn für 550 Mitarbeiter, kostet das Unternehmen Geld. Aber jede Firma sollte ihre Mitarbeiter so bezahlen, dass sie davon leben können. Der Wettbewerb darf nicht über Lohndumping entschieden werden."
PRO Der Wissenschaftler: "Jeder zusätzliche Cent wird ausgegeben"
"Ich habe in den vergangenen Jahren beobachtet, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland immer weiter gewachsen ist. Gleichzeitig sind die im Niedriglohnbereich gezahlten Löhne abwärts gegangen. Diese Leute hatten und haben also immer weniger Geld im Portemonnaie - und das bei gestiegenen Preisen.
Dabei ist es meiner Meinung nach nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, angemessene Löhne zu zahlen. Uns würde es auch wirtschaftlich sehr viel besser gehen, wenn es einen Mindestlohn gäbe. Denn Studien zeigen, dass gerade bei Geringverdienern jeder Cent, der zusätzlich auf ihrem Konto landet, ausgegeben wird. Wenn also ein Mindestlohn gezahlt würde, könnte die Binnenkonjunktur sehr stark profitieren. Die aktuelle Wirtschaftskrise hat uns doch gelehrt, dass wir uns nicht mehr nur auf den Export verlassen können - sondern im Inland etwas tun müssen. Daher plädiere ich sehr dafür, dass es einen allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn gibt. Denn nur mit kaufkräftigen Kunden, können wir unsere Wirtschaft stärken.
Das Argument, dass ein Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet, ist längst überholt. Aus anderen Ländern wissen wir, dass die Beschäftigungseffekte nach der Einführung eines allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohns marginal sind - in die eine oder andere Richtung. Es kommt nur darauf an, dass ein Mindestlohn gefunden wird, der für alle Seiten angemessen ist. Diese Höhe zu finden, sollte Aufgabe einer Expertenkommission sein."
PRO Die Funktionärin: "Gute Methode, um Einkommen zu sichern"
"Wenn jemand acht Stunden am Tag arbeitet, dann soll er von seinem Einkommen leben können. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist eine gute Methode, um dieses Einkommen sicherzustellen.
Allerdings gestaltet sich die Einsetzung eines Mindestlohns zum Beispiel im Bereich der Pflege schwierig. Wir zahlen zwar die Löhne und Gehälter, diese müssen aber über die Kostenträger, die Pflegekassen und die Sozialhilfeträger refinanziert werden. Das bedeutet, eine Erhöhung der Löhne aufgrund der Einführung des Mindestlohns müsste von diesen mitgetragen und befürwortet werden.
Wenn es gelingen könnte, die Kostenträger für die Zahlung des Mindestlohns einzunehmen und aus dem Mindest- kein Maximallohn würde, könnte ich der Einführung eines Mindestlohns zustimmen."
CONTRA Der Unternehmer: "Die Tarifpartner wissen am besten Bescheid"
"Ich bin ein absoluter Gegner eines Mindestlohns, der staatlich festgelegt wird. Meiner Meinung nach ist es Aufgabe der Tarifvertragsparteien eine Lohnhöhe für ihre jeweilige Branche zu finden. Denn man kann nicht für jede Branche und für jedes Bundesland von den gleichen Voraussetzungen ausgehen, etwa was die Kaufkraft angeht.
Es wird immer wieder darüber diskutiert, dass außenstehende Experten, die weder vom Staat noch von den Arbeitgebern kommen, über einen Mindestlohn entscheiden sollten. Diese Idee finde ich vollkommen absurd. Denn zum einen haben die sogenannten Experten keine Ahnung von den unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Branchen. Zum anderen würde ein von dieser Runde festgelegter Mindestlohn doch von vielen Seiten angefochten werden. Dann will der eine vielleicht 30 Prozent davon abweichen und der andere will die Höhe ganz ignorieren - auch wenn das gesetzlich nicht möglich ist.
Ich als Unternehmer bin der Auffassung, dass die Tarifpartner am besten wissen, was in einer Branche tragfähig ist und was nicht. Das soll aber nicht heißen, dass ich meinen Beschäftigten so wenig zahle, dass sie zusätzlich Arbeitslosengeld beziehen müssen. Da gibt es durchaus schwarze Schafe im Einzelhandel, die Lücken nutzen und ihren Mitarbeitern Niedrigstlöhne zahlen. Das lehne ich auch ab.
Denn natürlich muss sich Arbeit lohnen, auch im Vergleich zum Arbeitslosengeld II. Aber auch für die Arbeitgeber muss es sich rechnen. Einem Mindestlohn würde ich deshalb immer noch nicht zustimmen. Auch weil bei einem zu hohen Mindestlohn der eine oder andere Unternehmer sicher Stellen streichen müsste. Wie massiv so ein Abbau tatsächlich stattfinden würde, vermag ich aber nicht zu schätzen."
CONTRA Die Angestellte: "Lieber weniger verdienen als arbeitslos zu sein"
"Ich bin in gegen einen gesetzlichen Mindestlohn - speziell in unserem Gewerbe. Bei einem Stundenlohn von 7,50 Euro müsste meine Chefin direkt einen Mitarbeiter entlassen. Und wir arbeiten nur mit drei Leuten für sie. Mir geht es um meinen Arbeitsplatz. Ich verdiene lieber etwas weniger als arbeitslos zu werden.
Außerdem wäre ein Mindestlohn bei uns im Betrieb ungerecht, weil dann ja bei jedem das Gehalt angehoben werden müsste und wir dann alle das gleiche Gehalt bekämen. Bei uns im Salon wird aber jeder Mitarbeiter an seinem Umsatz mit 30 Prozent beteiligt. Außerdem bekommen wir noch Trinkgeld. So hat jeder die Chance, sein Einkommen selbst zu beeinflussen. Wer gut ist und viele Kunden hat, verdient auch mehr. Das wäre bei einem Mindestlohn nicht mehr so. Wenn ich dann schneller arbeite als jemand anderes, bekomme ich trotzdem genauso viel wie er. Ich glaube, ein Mindestlohn wäre für manche ein Freifahrtschein, sich zurückzulehnen.
Generell bin ich aber für Tarifverträge. Denn ich glaube schon, dass ohne irgendeine Regelung die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander gehen würde."
CONTRA Der Wissenschaftler: "Das Gute wollen, aber nichts erreichen"
"Wir haben in Deutschland de facto schon einen Mindestlohn - durch Hartz IV. Die Grundsicherung sichert nämlich jeden ab und verhindert, dass jemand arm werden muss. Und dafür muss in der Regel nicht einmal gearbeitet werden. Viele ausgeübte Tätigkeiten, für die dann auch noch gearbeitet werden muss, sind schlechter entlohnt.
Ich frage mich daher, wofür man da noch einen zusätzlichen allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn braucht, der auch noch Arbeitsplätze gefährden könnte. Vor allem der Niedriglohnsektor wäre bedroht. Denn gerade hier wurden in den vergangenen Jahren viele neue Jobs geschaffen. Und das nur, weil es möglich war, geringer Qualifizierte zu bezahlbaren Löhnen einzustellen. Dieser Fortschritt wäre durch einen Mindestlohn durchaus gefährdet. Und nebenbei gesagt: Die Menschen haben ihre Jobs im Niedriglohnsektor ja auch frei gewählt.
Die Frage ist ohnehin, wer von einem Mindestlohn profitieren würde. Ziel von gesetzlichen Lohnuntergrenzen soll es ja sein, das Armutsrisiko zu reduzieren. Studien haben aber ergeben, dass etwa zwei Drittel der Geringverdiener gar nicht armutsgefährdet sind. Oft sind das Zweitverdiener in einem Haushalt, die sich mit einem Nebenjob die Einkünfte aufbessern - aber nicht unbedingt auf den Lohn angewiesen sind. Die Folge: Man hilft mit dem Mindestlohn vielleicht einer kleinen Gruppe Armutsgefährdeter, aber stützt zugleich einen großen Kreis, der diese Hilfe nicht verdient. Man will zwar das Gute, schafft aber keine gerechtere Welt.
Das gleiche gilt im Übrigen auch für branchenbezogene Mindestlöhne, die negative Effekte nach sich ziehen. Denn wenn man diese in einer Branche einführen würde, dann würden dort die Preise steigen, die Nachfrage würde zugunsten anderer Branchen abnehmen und wahrscheinlich würden dorthin auch Arbeitsplätze verlagert."
CONTRA Der Funktionär: "Gehaltseinbußen für Höherqualifizierte"
"Es ist meiner Meinung nach nicht möglich, eine einheitlich angemessene Lohnhöhe für alle festzulegen. Momentan gibt es 68.000 verschiedene Tarifverträge, an welchem soll sich da ein Mindestlohn orientieren? Ein identischer Lohn für zum Beispiel Metallarbeiter und Elektriker ergibt keinen Sinn. Für einige Branchen sind 7,50 Euro zu wenig, für andere Branchen ist ein solcher Stundenlohn aktuell einfach zu hoch.
Deshalb muss die Festsetzung der jeweiligen Lohnuntergrenzen den Tarifvertragsparteien vorbehalten bleiben. Diese haben die Sachkenntnis. Bei einem politisch bestimmten Betrag von 7,50 Euro müssten einige Firmen die Löhne von heute auf morgen um bis zu 120 Prozent ohne Übergangszeiten erhöhen. Keine Firma kann das finanziell verkraften.
Außerdem bin ich davon überzeugt, dass ein gesetzlicher Mindestlohn bei Höherqualifizierten zu Gehaltseinbußen führt. Hat der Chef vorher zwölf oder 15 Euro für Fachkräfte pro Stunde gezahlt, hätte er dann gute Argumente, nicht mehr als 7,50 Euro zahlen zu müssen. Es würde zu einer Nivellierung der Löhne für Fachkräfte nach unten kommen.
Dabei soll sich Leistung auch in der Entlohnung zeigen. Dafür benötigen wir aber ein differenziertes Lohngitter. Deshalb bin ich der Meinung, dass der Lohn mit den Sozialpartnern verhandelt und festgesetzt werden muss und nicht durch den Gesetzgeber. Gegen branchenspezifische Mindestlöhne habe ich deshalb auch nichts."