Guido Kleinhubbert

Sozialverband Der gefährliche Blues vom bitterarmen Deutschland

Ausgegrenzt und abgedrängt: Glaubt man dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dann sieht es düster aus in Deutschland. Doch solche Schwarzmalerei ist gefährlich - gerade in Zeiten der Flüchtlingskrise.
Verbandschef Schneider: Der Blues vom armen Deutschland

Verbandschef Schneider: Der Blues vom armen Deutschland

Foto: imago

Nun hat uns Ulrich Schneider wieder den Blues gesungen. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der in seiner Freizeit Frontmann einer Rockband namens "Dude" ist, stellte am Dienstagmorgen in Berlin den neuen Armutsbericht seines Verbandes vor - und seine Botschaft klang düster.

Die Armut verharre auf "hohem Niveau", trug der Mann mit der tiefen Brummstimme den versammelten Journalisten erwartungsgemäß vor. Im Vergleich zu 2015, als der letzte Bericht veröffentlicht wurde, habe sich die Situation besonders in den Flächenstaaten Nordrhein-Westfalen und Bayern enorm verschärft. Bundesweit seien 15,4 Prozent der Menschen arm, bei den Kindern und Jugendlichen seien es sogar etwa 19 Prozent. Millionen Menschen würden "ausgegrenzt" und in "Subkulturen abgedrängt", mahnte Schneider, das alles sei "erschreckend".

Klar, könnte man denken, es sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, von denen viele wenig bis gar nichts besitzen; das muss sich unweigerlich auf die Armutszahlen auswirken. Doch diese Menschen fließen in Schneiders Rechnung noch gar nicht ein, weil der Verband mangels frischen Datenmaterials mit Zahlen aus 2014 operiert, also aus einer Zeit vor dem großem Zuzug.

Abgesehen davon, ist der alljährliche Blues-Song sowieso ein schiefes Lied. Für Schneider und seine Fans sind nämlich alle Menschen "arm", die von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens leben müssten. Das ist zumindest heikel, denn selbst wenn in unserem Land nur millionen- und milliardenschwere Ferrari-Fahrer gemeldet wären, gäbe es hier Armut. Irgendwer fällt immer unter die Grenze.

Unterstützung für AfD und Co.

Es zeugt also nicht zwangsläufig von steigender Armut, wenn immer mehr Menschen unter die 60-Prozent-Schwelle rutschen, sondern allenfalls von wachsender Ungleichheit, die zu beklagen ja eigentlich schon ausreichen würde. Doch Schneider und den Seinen genügt das nicht, sie verkünden trotz nachweislich steigender Durchschnittseinkommen, gesunkener Arbeitslosigkeit, Mindestlohn und weiter ausgebauter sozialstaatlicher Leistungen unbeirrt und jedes Jahr die Mär vom bitterarmen Deutschland.

Das ist gerade in diesen Zeiten äußerst gefährlich. Denn wer dem Paritätischen Wohlfahrtsverband seine Botschaft einfach so abkauft, den kann schnell die Wut packen - auf ein System, das die eigenen Bürger angeblich in Armut vegetieren lässt.

Besonders groß ist die Wirkung dann, wenn diese Botschaft in den Zeitungen und Onlinemedien auch noch mit Symbolbildern von Kindern illustriert wird, die in Mülleimern wühlen - und nicht mit Fotos von Studenten, die laut der schneiderschen Logik nämlich auch zum überwiegenden Teil unter der Armutsgrenze leben.

Es ist fahrlässig, den Eindruck zu erwecken, dass es vielen Menschen in Deutschland immer schlechter geht. Wer wider besseres Wissen so tut, als könnten immer mehr Männer und Frauen trotz harter Arbeit oder gestiegener Hartz IV-Bezüge kein würdiges Leben führen und zum Beispiel ihren Nachwuchs nicht mehr angemessen ernähren, der handelt verantwortungslos. Er trägt weitere Unruhe in jene Teile der Bevölkerung, die wegen der Flüchtlingskrise ohnehin schon verunsichert sind, und treibt denjenigen Wähler und Unterstützer zu, die einfache Antworten liefern.

Es kann also sein, dass Blues-Sänger Schneider einige neue Fans bekommt, die er sich nicht gewünscht hat. Zum Beispiel AfD-Politiker, NPD-Wirrköpfe und Pegida-Gröhler.

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