Neuer Höchststand Deutschland wird flächendeckend ärmer
Seit der Wiedervereinigung hat es in Deutschland nicht mehr so viel Armut gegeben: Ein Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und anderen Organisationen beziffert die Armutsquote auf 15,7 Prozent - rund 12,9 Millionen Deutsche sind demnach gefährdet. Vor allem in Berlin und im Ruhrgebiet ist das Armutsrisiko deutlich gestiegen.
Vor zehn Jahren lag die Armutsquote noch bei 14,7 Prozent. Als arm gelten laut Statistischem Bundesamt alle Personen, die in Haushalten leben, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte erzielen. Für ein Paar ohne Kinder setzte der Verband für 2015 beispielsweise als Armutsschwelle 1413 Euro monatlich an.
Nur vier Bundesländer konnten der Studie zufolge ihre Armut abbauen - ausgerechnet solche, denen man es aufgrund ihrer Strukturschwäche kaum zugetraut hätte: Die Armutsquoten von Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und dem Saarland liegen zwar trotzdem noch über dem bundesweiten Durchschnitt, doch ist ein deutlicher Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren zu verzeichnen (auf der Website des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes können Sie die Armutsquoten Ihrer Region nachsehen).
Ostdeutsche Bundesländer konnten Armut abbauen
Das trifft auch auf die ostdeutschen Bundesländer insgesamt zu. Im Zehn-Jahres-Vergleich konnten sie ihre Armut signifikant abbauen - jedoch auf einem ziemlich hohen Niveau. So stehen insbesondere Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit Armutsquoten von über 20 Prozent im Bundesvergleich nach wie vor schlecht da.
In Nordrhein-Westfalen ist die überdurchschnittliche Armutsquote von 17,5 Prozent zumindest nicht weiter gestiegen. Die mit Abstand stärkste Zunahme zeigt das Land Berlin, wo die Quote von 20 auf gleich 22,4 Prozent gestiegen ist. Auch in Thüringen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen hat die Armut deutlich zugenommen. Bremen stellt seit Jahren das Schlusslicht dar. Die Armutsquote beträgt dort mittlerweile 24,8 Prozent und jeder vierte Einwohner lebt unter der Armutsschwelle.
Die wohlhabenden Südländer Bayern und Baden-Württemberg heben sich mit Armutsquoten von 11,6 und 11,8 Prozent deutlich positiv von den anderen Ländern ab.
Wirtschaftswachstum verhindert nicht den Anstieg von Armut
Besonders gefährdet, unter die Armutsgrenze zu fallen, sind dem Bericht zufolge Alleinerziehende. Mit 43,8 Prozent gehören sie neben Erwerbslosen (59 Prozent), Ausländern (33,7 Prozent), Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau (31,5 Prozent), Menschen mit Migrationshintergrund (27,7 Prozent) und Familien mit drei oder mehr Kindern (25,2 Prozent) zu den Risikogruppen.
"Wir haben es wieder mit einem zunehmenden Trend der Armut zu tun", sagte der Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider. "Die wirtschaftliche Entwicklung schlägt sich schon lange nicht mehr in einem Sinken der Armut nieder."
Vielmehr müsse mit Blick auf die letzten zehn Jahre konstatiert werden, dass wirtschaftlicher Erfolg offensichtlich keinen Einfluss auf die Armutsentwicklung habe, heißt es in dem Bericht. Auch zunehmende Beschäftigungszahlen sorgten nicht für ein geringeres Armutsrisiko.
Kritik von Arbeitsministerium und Städte- und Gemeindebund
Das Bundesarbeitsministerium hat den Armutsbericht kritisiert. "Die Fokussierung auf die Armutsrisikoquote ist verkürzt", erklärte das Ministerium am Donnerstag. Armut in einer Wohlstandsgesellschaft lasse sich nicht auf eine einzige Maßzahl beschränken.
Auch den Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes als alleinige Datenquelle hält das Ministerium für eine "Schwäche des Berichtes". Andere "relevante Datenquellen" etwa zeigten, dass das Armutsrisiko von Rentnern unterdurchschnittlich sei. Wenn der Wohlstand insgesamt steige, nehme auch das mittlere Einkommen zu, das als Orientierung für die Armutsschwelle gilt.
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund übte Kritik an der Studie des Wohlfahrtsverbandes aus. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg hält den Armutsbericht für undifferenziert. Es sei "zu pauschal", Menschen mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens als arm zu bezeichnen, sagte er in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" vom Freitag.
Diese Einstufung sage nichts über die tatsächliche Situation eines Menschen aus und bedeutete nicht unbedingt, dass die Betroffenen "abgehängt" seien. Als Beispiel nannte er die 2,8 Millionen Studenten: Hunderttausende von ihnen fielen in die umstrittene Armutskategorie, seien aber gesellschaftspolitisch besonders aktiv und sähen sich zu Recht als die zukünftige Leistungselite.
Zusammengefasst: Die Armut in Deutschland ist deutlich gestiegen. Mit 15,7 Prozent befindet sie sich auf einem neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung. Nur vier Bundesländer konnten ihre Armut abbauen - allerdings liegt die Armutsquote dort trotzdem noch über dem Bundesschnitt. Berlin und das Ruhrgebiet hingegen gelten als die armutspolitischen Problemregionen. Das Arbeitsministerium und der Städte- und Gemeindebund kritisierten die Studie.