Bedrohte Wirtschaftsunion Aufmarsch der Ego-Europäer

Flagge vor Reichstag in Berlin: Wachsende EU-Skepsis
Foto: Rainer Jensen/ picture-alliance/ dpaHamburg/Berlin - Es ist mehr als ein gewöhnlicher Schlagabtausch. Es ist ein Symptom für eine sich ausbreitende europäische Krankheit.
Am Dienstagnachmittag tagte die Unionsfraktion. Dabei gerieten Fraktionschef Volker Kauder und der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler aneinander. Gauweiler, ein bekennender Gegner des Euro-Rettungsschirms, kritisierte die Regierung für ihre Europa-Politik. Dafür, dass sie in kurzen Abständen Milliarden in hochverschuldete EU-Staaten pumpt. Ihr macht vieles falsch, so der Tenor. Es heiße immer noch "Wir", nicht "Ihr", rügte Kauder - und bekam Applaus.
Gauweiler ist nicht der einzige, dem das Wir-Gefühl abhanden kommt. Die Schuldenkrise spaltet den Kontinent. Ein Riss geht durch Europa, durch Regierungen, durch politische Lager. Und dieser Riss wird größer. "Ich zuerst", lautet das neue Credo, es ist ein Europa der Egos. Die dänische Regierung blockiert ihre Grenzen wieder mit Schlagbäumen - um Zuwanderer aus Osteuropa abzuwehren. In Finnland holt eine rechtspopulistische Partei rund ein Fünftel der Stimmen - und verzichtet darauf, das Land mitzuregieren, weil sie dem EU-Partner Portugal keine Hilfen zahlen will.
Auch in Deutschland sind die Ego-Europäer auf dem Vormarsch. Sie fürchten, die Bundesrepublik könnte zum Zahlmeister des Kontinents verkommen. Griechenland, Irland, Portugal - dreimal innerhalb eines Jahres berappte Deutschland Milliarden, um EU-Partner vor der Pleite zu retten. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Bei den Griechen, die Europa vor einem Jahr vor der Staatspleite rettete, muss wohl bald Geld nachgeschossen werden, von bis zu 60 Milliarden Euro ist die Rede. Hinzu kommt Mitte 2013 ein permanenter Rettungsschirm, zu dem Deutschland 22 Milliarden Euro Grundkapital und 170 Milliarden Euro Bürgschaften beisteuert.
Deutsche Mehrheit für Rettungspaket bedroht
In den Regierungsparteien wächst darüber der Unmut. Man verabschiede sich immer mehr "von marktwirtschaftlichen Prinzipien wie Eigenverantwortung und Verlusthaftung", sagt der CDU-Abgeordnete Manfred Kolbe der "Süddeutschen Zeitung". Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Jürgen Koppelin fordert, lieber die Steuern im eigenen Land zu senken, statt noch mehr Milliarden in südeuropäischen Schuldensümpfen zu versenken.
In CDU, FDP und CSU wächst der Widerstand gegen die deutsche EU-Krisenpolitik. 19 Abgeordnete sollen mittlerweile erklärt haben, Angela Merkels Pläne nicht mehr mitzutragen, Dutzende weitere sollen sie hinter vorgehaltener Hand kritisieren.
Sogar die Kanzlermehrheit ist in Gefahr. Im Parlament haben die Regierungsfraktionen 20 Stimmen mehr als SPD, Grüne und Linke zusammen. Sollten noch mehr CDU-, FDP- und CSU-Abgeordnete ausscheren, hätte Merkel keine Mehrheit für ihre EU-Rettungsmilliarden. Sie wäre auf die Stimmen der Opposition angewiesen.
Das aber wäre ein fatales Signal. "Deutschland ist der wichtigste Stabilitätsanker in Europa", sagt Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). "Mit seinem Ja zur EU-Rettungspolitik steht und fällt der Krisenmechanismus." Komplikationen bei den Hilfen würden an den Finanzmärkten Schockwellen auslösen.
30 Prozent wollen ein Deutschland ohne Euro
In der Spitze der Unionsfraktion ist man noch zuversichtlich. Bisher glaubt keiner, dass die Koalitionsmehrheit am Ende wirklich wackelt. Man ist sich aber bewusst, dass die Euro-Debatte in den eigenen Reihen eine noch größere Sprengkraft bergen könnte als die 180-Grad-Wende in der Atompolitik.
Die Euro-kritischen Abgeordneten reagieren auf eine Stimmung, die sich unter Millionen Deutschen ausbreitet. Das Forsa-Institut hat im Auftrag der Zeitung "Freitag" eine repräsentative Zahl von Bundesbürgern mit den Aussagen von vier europäischen Rechtspopulisten konfrontiert - und festgestellt: Deren Gedankengut trifft längst auf breite Zustimmung. Knapp die Hälfte der Befragten verlangt, dass die Zuwanderung nach Deutschland drastisch reduziert werden muss. 30 Prozent fordern ein "unabhängiges Deutschland ohne den Euro, in das keine Europäische Union hineinregiert".
Das Euro-Barometer, die wichtigste Meinungsumfrage der EU, fördert ähnliche Erkenntnisse zutage. Demnach verbindet nur rund die Hälfte der Deutschen ihre EU-Zugehörigkeit mit Vorteilen, lediglich 32 Prozent haben ein generell positives Bild von der EU (siehe Grafiken unten).

Grafiken: Europas Wirtschaft im Überblick
Der Unmut hat Gründe. Niemand weiß, ob die deutschen Steuerzahler das viele Geld, das sie Griechenland, Irland und Portugal leihen, wiederbekommen. Es ist möglich, dass sie am Ende einen zweistelligen Milliardenbetrag verlieren.
Und niemand weiß, ob sich dieses Risiko lohnt. Was passiert wirklich, wenn man Griechenland die Hilfe versagt? Der Wirtschaftsweise Lars Feld meint, die Folge wäre ein Crash der globalen Finanzmärkte, der die Krise nach dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers noch übertreffen würde. Dagegen behauptet Hans-Werner Sinn, der Chef des Ifo-Instituts, der Euro könne einen Griechenland-Crash verkraften.
Fehlgeleitete Debatte
Klar ist: Die Euro-Krise stellt die Europäische Union auf eine harte Probe. "Die Rettungspakete für hochverschuldete EU-Länder und die Schaffung eines dauerhaften Krisenmechanismus sind mit Blick auf die europäische Wirtschaftspolitik die größten Umwälzungen seit der Einführung des Euro im Jahr 1999", sagt Heinemann vom ZEW.
Die Rettung Europas muss rasch in die Wege geleitet werden, sonst droht der Wirtschaftsraum auseinanderzubrechen. Dass Dutzende Abgeordnete sich gegen die Krisenpolitik der Regierung stellen, ist eine deutliche Warnung. Viel wichtiger ist allerdings, dass die nun losgetretene Diskussion zu einer Lösung führt, die nicht nur den Koalitionsfrieden wieder herstellt - sondern auch die Bevölkerung mit Europa versöhnt.
Doch genau das passiert nicht. "In der Debatte geht es meist um die Abgründe der Euro-Krise", sagt Daniel Gros vom Centre for European Policy Studies, der seit fast 20 Jahren die EU-Wirtschaftspolitik beobachtet. Die großen Vorteile hingegen, die Deutschland durch die EU hat, kommen zu kurz. So hat die gemeinsame Währung in der Bundesrepublik zu einem regelrechten Exportboom geführt. Zwischen Schleswig-Holstein und Bayern hängt heute fast jeder vierte Arbeitsplatz direkt oder indirekt vom Export ab.
Auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hält das Krisen-Management der Regierung für problematisch. "Seit dem Beginn der Euro-Krise werden Probleme nur scheibchenweise gelöst", moniert er. "Einfach zu sagen, wir sind gegen den Rettungsschirm, weil Millionen Deutsche es sind, ist die denkbar schlechteste Lösung. Besser wäre es, dem Bürger zu erklären, warum die Milliardenhilfen unvermeidlich sind. Es geht in erster Linie nicht um die Problemländer, sondern um unsere eigenen Banken, die in hohem Maße mit Krediten dort engagiert sind."