Die EU sollte bei den Brexit-Verhandlungen kompromissbereiter sein: Ein gelungener Ausstieg Großbritanniens könnte ein Signal an skeptische Mitgliedstaaten sein - und die Union im Kern konsolidieren.
Zwei Züge rasen aufeinander zu. So wie die Dinge liegen, kommt es in 18 Monaten zum Aufprall. Spätestens. Es sei denn, jemand legt vorher noch eine Weiche um.
Ein Jahr nach dem britischen Referendum und eine Woche nach Beginn der Brexit-Verhandlungen ist dies die beunruhigende Lage: Die britische Regierung gibt sich hartleibig. Premierministerin Theresa May behält sich sogar immer noch die Option des Scheiterns der Verhandlungen vor.
Die EU ihrerseits hat eine unnachgiebige Position eingenommen, um anderen Mitgliedstaaten zu zeigen: Ein Ausstieg ist verdammt teuer. Ihr habt dabei nichts zu gewinnen, aber enorm viel zu verlieren. Es regiert das Prinzip Abschreckung. In Brüssel, Berlin und anderswo will man ein Zerbröckeln der EU auf jeden Fall verhindern.
Die Schäden, die angesichts dieses Starrsinns drohen, sind enorm. Ökonomisch, politisch und geostrategisch bringt der Brexit fundamentale Unwägbarkeiten mit sich.
Wie stark werden die wirtschaftlichen Verflechtungen über den Ärmelkanal zurückgeschnitten?
Kann es eine effektive europäische Außen- und Sicherheitspolitik ohne den Schulterschluss mit der Atom- und Finanzmacht Großbritannien überhaupt geben?
Folgt auf den transatlantischen Riss durch den Westen als Nächstes der transeuropäische? Arbeiten London und Brüssel künftig womöglich sogar gegeneinander?
Dass es zu einem Zerwürfnis kommt, bei dem sich beide Seiten am Ende in tiefer Entfremdung gegenüberstehen, lässt sich leicht ausmalen.
Vielleicht ist es an der Zeit, die Weiche umzulegen. Vielleicht sollten nicht nur die Briten, sondern auch die Rest-Europäer ihre Strategie noch einmal grundsätzlich überdenken.
Hier ist ein Vorschlag: Europa sollte den Brexit als Chance verstehen. Bei Licht betrachtet, bietet der Ausstieg der Briten die Möglichkeit, die EU zu konsolidieren. Ein weicher Brexit könnte eine Blaupause für andere Mitgliedstaaten darstellen, die lieber weniger Europa wollen. Sie könnten künftig dem britischen Weg folgen. Erstmals gäbe es ein geordnetes Verfahren für den Ausstieg aus der EU, das bislang nur sehr vage in Artikel 50 des EU-Vertrags umrissen ist.
Europa würde sich von der Fiktion verabschieden, dass es für alle Mitgliedstaaten nur den Weg zu immer mehr Integration gibt. So steht es nach vor im EU-Vertrag: Das offizielle Ziel ist eine "immer engere Union der Völker Europas", eine Formel, die sich bereits in den Römischen Verträgen von 1957 findet. Doch damals hatte die Gemeinschaft nur sechs (westeuropäische) Mitgliedstaaten. Heute sind es 28 mit höchst unterschiedlichen Wünschen und Erwartungen.
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Der Widerspruch zwischen Vertiefung und Erweiterung ist seit langem unübersehbar. So verpflichtet der EU-Vertrag beispielsweise immer noch alle Länder, irgendwann dem Euro beizutreten (nur für Großbritannien und Dänemark gelten Ausnahmeregelungen). Aber die Neigung dazu ist vielerorts kaum vorhanden, weder in Polen, Ungarn oder Tschechien, noch in Schweden. Und Brüssel lässt sie gewähren, aus gutem Grund.
Bislang versucht die EU, die Kluft zu überbrücken, indem sie ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten anbietet. Einzelne Ländergruppen dürfen sich zu einer intensiveren Zusammenarbeit zusammenfinden. Im Frühjahr hat die Europäische Kommission ein Papier vorgestellt, in dem sie fünf Szenarien für die Zukunft der EU zur Diskussion stellt. Eine Form der begrenzten Flexibilität, die den Kreis irgendwie zum Quadrat machen soll. Kann das funktionieren? Zweifel sind erlaubt.
Denn einerseits geht schon die bisherige Zusammenarbeit einigen Ländern zu weit. Die Engländer beispielsweise stimmten vor allem gegen die EU-Mitgliedschaft, weil sie weniger Zuzug aus den übrigen EU-Staaten wollen, was mit dem EU-Prinzip der Freizügigkeit nicht zusammenpasst. Polen, Ungarn und Tschechen wiederum widersetzen sich der europäischen Gesetzgebung zur Verteilung von Flüchtlingen, weshalb die Kommission nun ein Verfahren gegen die drei Staaten eingeleitet hat.
Andererseits wird der Kern der EU, die Währungsunion, sich auf Dauer nur stabilisieren lassen, wenn sie sich in Richtung eines Föderalstaats entwickelt - mit einer ordentlichen legitimierten Gemeinschaftsebene, mit Mechanismen automatischer Umverteilung innerhalb der Eurozone, mit dem Recht auf Durchgriff in den Mitgliedstaaten. Sollte ein Umbau in diese Richtung scheitern, droht die Währungsunion auseinanderzubrechen - mit Italien als mutmaßlicher Sollbruchstelle - und unkalkulierbaren Folgewirkungen für die übrige EU. Längst grassiert auch in den europäischen Institutionen die Angst vor einem ungeordneten Auseinanderbrechen.
Diese Spannungen ließen sich lösen, wenn es gelänge, den Brexit als Blaupause zu etablieren. Die EU würde sich geordnet auseinanderdividieren: hier diejenigen, die sich zu einem harten Kern verdichten wollen - dort jene Staaten, die vor allem an freiem Handel interessiert sind.
Es entstünde ein Zwei-Sphären-Modell. In der inneren Sphäre würde sich Europa rund um die gemeinsame Währung in einen Föderalstaat weiterentwickeln. Drum herum würde sich ein Kreis aus Ländern reihen, die einen Teil der Regeln des Kerns übernehmen müssten - so wie heute bereits Norwegen oder die Schweiz -, die aber in anderen Bereichen versuchen würden, einen eigenständigen Kurs zu steuern. Ein späterer Beitritt zur Euro-Föderation stünde ihnen offen. Großbritannien könnte außerdem eine immer noch mögliche Abspaltung Schottlands erspart bleiben (achten Sie auf die Rede von Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon am Dienstag).
Natürlich, dieser Vorschlag ist nicht ohne Risiken. Es wäre ein Großexperiment mit ungewissem Ausgang. Einige Staaten könnten sich ganz von der EU lossagen. Im Zuge der Debatten könnte sich auch in den europäischen Kernländern, zumal in Deutschland und Frankreich, die Anti-EU-Stimmung zuspitzen. Es ist nicht auszuschließen, dass am Ende das gesamte 60 Jahre alte Projekt in Scherben liegt.
Doch dass es sich lohnt, eine ebenso offene wie entschiedene Debatte über Europas Zukunft zu führen, haben die Wahlen in Frankreich gezeigt. Mit weitreichenden Ideen zur Weiterentwicklung der Eurozone ist Emmanuel Macron zum Staatspräsidenten gekürt worden.
Es hilft eben, wenn die Optionen klar auf dem Tisch liegen - und nicht in Hinterzimmern ausgekungelt werden.
Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der kommenden Woche
MONTAG
München - Deutschland boomt - Neue Zahlen vom Ifo-Geschäftsklimaindex. Zuletzt hatte das Barometer Hochkonjunktur angezeigt.
DIENSTAG
Berlin - SteigendeÜberschüsse und andere Drohungen - US-Handelsminister Wilbur Ross in Berlin: Die Trump-Administration hatte Deutschland wegen hoher Überschüsse immer wieder mit Handelssanktionen gedroht.
London - Should I stay or should I go? - Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon hält eine mit Spannung erwartete Brexit-Rede.
MITTWOCH
Paris - Macron, en travail - Die neue französische Regierung will die umstrittene Liberalisierung des Arbeitsrechts auf den Weg bringen.
DONNERSTAG
Wiesbaden - Deutsche Inflation - Das Statistische Bundesamt veröffentlicht eine erste Schätzung zur Steigerung der Verbraucherpreise in Deutschland im Juni.
Brüssel - Transatlantische Risse - Die Nato-Verteidigungsminister tagen. Zuletzt waren beim Gipfel der Allianz klare Gegensätze zwischen der US-Administration und ihren europäischen Partnern zutage getreten.
Nürnberg - Verbraucher in Stimmung - Neue Zahlen zum Konsumklima in Deutschland von der GfK.
FREITAG
Nürnberg - Jobwunder - Die Bundesagentur für Arbeit legt die Arbeitsmarktzahlen für Juni vor. Weitere Beschäftigungsrekorde sind zu erwarten.
Luxemburg - Euro-Inflation - Das europäische Statistikamt Eurostat veröffentlicht eine erste Schätzung zur Steigerung der Verbraucherpreise in der Eurozone im Juni.
Peking - China-Konjunktur - Chinas Statistikamt legt neue Zahlen zur Stimmung bei Chinas Einkaufsmanagern vor.
Tallinn - NeuerVorsitz - Estland übernimmt turnusmäßig die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft.