Bilanz des Brexits Der Milliardenschaden, den die Briten kaum spüren

Abstrakter Druck: Weil die britische Wirtschaft auch mit verringertem Wachstum Stellen schaffen konnte, geht es vielen Bürgern finanziell gut
Foto: Simon Dawson/ REUTERSAm 23. Juni 2016 haben die Briten für den Brexit gestimmt – und damit eine bislang schon mehr als 40 Monate dauernde Phase der Unsicherheit eingeleitet. Diesen Freitag nun, am 31. Januar, verlässt das Vereinigte Königreich die EU. Wie fällt die Bilanz nach dreieinhalb Jahren Brexit-Vorbereitungen aus?
Die britische Wirtschaft hat in dieser Zeit einen Milliardenschaden erlitten, das haben Ökonomen der Forschungseinheit von Bloomberg ausgerechnet, einer auf Wirtschaftsthemen spezialisierten Nachrichtenagentur. Ihr Fazit fällt hart aus: "Die Kosten des Brexit für das Vereinigten Königreich: 130 Milliarden Pfund, Tendenz steigend", so haben sie ihre Analyse überschrieben.
Seit dem Brexit-Referendum 2016 "hat sich das Wachstum halbiert, auf Jahresbasis gerechnet auf ein Prozent von zuvor zwei Prozent", schreiben die Autoren. Das hat dazu geführt, dass die britische Wirtschaft heute deutlich kleiner ist, als sie es ohne Brexit-Prozess wäre.
Die so binnen drei Jahren verlorene Wirtschaftskraft habe sich Ende 2019 bereits auf 130 Milliarden Pfund summiert, umgerechnet etwa 150 Milliarden Euro. Bis Ende 2020 werde der Schaden weiter steigen, auf 200 Milliarden Pfund, das wären zum aktuellen Wechselkurs 235 Milliarden Euro.
Zuletzt meldete das britische Statistikamt ONS, das Wachstum der Wirtschaft sei gesunken "auf die geringste Rate seit einem Jahrzehnt". Insgesamt hätten die Briten über drei Jahre "2,5 bis 3 Prozent Wachstum auf der Straße liegen lassen", sagt Gabriel Felbermayr, Chef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Die britische Wirtschaft ziehe sich aus den europäischen Wertschöpfungsketten zurück, den engen Verflechtungen mit Zulieferern auf dem Kontinent. "Das geht schon in Richtung Deglobalisierung der britischen Wirtschaft", sagt Felbermayr.
Auch die Investitionen – die Ausgaben für neue Fabriken und Maschinen – in Großbritannien haben sich deutlich schlechter entwickelt, als in anderen Industrienationen. Die Lücke zum Rest der G7 hat sich seit 2016 auf neun Prozent im Vergleich zum Rest der G7 geweitet, zu diesem Schluss kommt der US-Investmentfonds Vanguard.
Jobboom trotz Unsicherheit
Die Bloomberg-Schätzung basiert dabei auf dem Vergleich mit Ländern, die sich in der Vergangenheit ähnlich wie Großbritannien entwickelt hatten, einer sogenannten synthetischen Kontrollgruppe, in diesem Fall die G7.
Obwohl sich erste Kosten und Milliardenschäden des Brexit bereits vor dem eigentlichen Austrittsdatum manifestiert haben, hat sich das Meinungsbild in Großbritannien seit der Abstimmung nicht radikal gedreht. 2019 wurde über ein mögliches zweites Brexit-Referendum diskutiert, Umfragen weisen darauf hin, dass es womöglich ähnlich knapp ausgegangen wäre wie die erste Abstimmung.
Das hat auch damit zu tun, dass Berechnungen wie der Bloomberg-Vergleich mit der "synthetischen Kontrollgruppe" eher abstrakte Ergebnisse liefern – jedenfalls nichts, was die Menschen konkret in ihrem Portemonnaie spüren.
Im Gegenteil: Der Arbeitsmarkt in Großbritannien hat sich seit 2016 positiv entwickelt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die britische Wirtschaft hat in den vergangenen drei Jahren sogar viele neue Stellen geschaffen.
Löhne und Gehälter sind ebenfalls weiter gestiegen, zuletzt hatten britische Angestellte im Schnitt nominal über drei Prozent mehr Geld in der Tasche. Sogar real – also bereinigt um die durch den Kurssturz des Pfunds ausgelösten Preissteigerungen – blieb zuletzt ein deutliches Plus.
Zudem sind die Brexiteers um den heutigen Premierminister Boris Johnson nicht die einzigen, die vor dem Brexit-Referendum Stimmung gemacht haben. Vor der Abstimmung hatte das Finanzministerium des damaligen Regierungschefs David Cameron eine drastische Warnung veröffentlicht: Ein "Leave"-Votum werde sofort einen drastischen wirtschaftlichen Schock auslösen. Nicht nur das Pfund werde abstürzen – der einzige Teil der Warnung, der sich später bewahrheitete – sondern auch die Volkswirtschaft insgesamt: Großbritannien werde umgehend in eine Rezession rutschen und binnen zwei Jahren mindestens 500.000 Arbeitsplätze verlieren, womöglich sogar mehr als 800.000.
Panikprognosen halfen den Leavern
Tatsächlich hat die britische Wirtschaft seit dem Brexit-Votum aber keine Stellen verloren, sondern sogar mehr als eine halbe Million neue Jobs geschaffen. Für alle Brexit-Gegner ist das inzwischen zu einem Problem geworden: Die Panikprognose von 2016 "ist der beste Freund der Brexiteers geworden", wie zwei Kommentatoren im "Guardian" angemerkt haben. Brexit-Anhänger verweisen darauf gern, um Warnungen vor den wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts zu kontern.
IfW-Chef Felbermayr hat die Warnung der Londoner Regierung schon 2016 kritisch gesehen. Er kam in Berechnungen auf geringere Wohlstandsverluste. "Von allen 28 EU-Staaten war Großbritannien aufgrund seiner Lage und Historie immer das Land, das sich eine Abtrennung noch am ehesten leisten konnte", sagt Felbermayr.

Bankenviertel Canary Wharf in London: Wie finanzstark wird Großbritannien ohne die EU-Mitgliedschaft sein?
Foto: Simon Dawson/ REUTERSHinter der Debatte um die Brexit-Folgen steht ein grundsätzliches Problem, das über Großbritannien hinausweist: Die Gewinne aus der internationalen Arbeitsteilung und dem globalen Handel sind zwar eindeutig belegt und erheblich. Aus der Sicht eines handelsskeptischen Bürgers aber wirken sie auch diffus und mitunter weit weg.
Felbermayr hat beispielsweise einmal untersucht, wie es Deutschland ohne die Welthandelsorganisation WTO ginge. "Da kommen wir zu dem Schluss, dass es die Deutschen 66 Milliarden Euro kosten würde pro Jahr. Aber das sehen die Menschen nicht, es ist zu abstrakt."
Das mache die aktuelle politische Entwicklung – Stichwort: Trumps Handelskrieg – gefährlich. Wirtschaftswissenschaft und Politik seien eigentlich in der Debatte um die Vorteile des Welthandels auf verlässliche Daten angewiesen. "Aber die Daten sind oft schlecht, und wenn sie das sind, ist es oft schon zu spät", warnt Felbermayr.
Deshalb sei es wichtig gewesen, dass die Welt in den vergangenen Jahren einen klaren Kompass gehabt habe. "Europa hat sich nicht wegen empirischer Beweise für den Binnenmarkt entschieden, sondern weil es schlüssige Modelle und glaubhafte Narrative gab, dass Barrieren einreißen sinnvoll ist", sagt Felbermayr.
Dieser Konsens werde seit der weltweiten Finanzkrise 2008/09 infrage gestellt, weil "unsere Marktwirtschaft damals eingebrochen ist, das staatskapitalistische China aber weiter um acht Prozent gewachsen ist".
Die Kompassnadel der westlichen Gesellschaften drehe sich seitdem wild. Und es ist nicht zu erwarten, dass sie bald wieder zur Ruhe kommt.