Henrik Müller

Nachfolger von Theresa May Die gefährlichen Versprechen der Brexiteers

Nur noch viereinhalb Monate: Großbritannien taumelt auf den Brexit zu. Die möglichen Nachfolger von Theresa May versprechen den Bürgern das Blaue vom Himmel. Leisten kann sich das Königreich das nicht.
Anti-Brexit-Demonstrant an der Downing Street in London am 11. Juni

Anti-Brexit-Demonstrant an der Downing Street in London am 11. Juni

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REUTERS/Henry Nicholls

Der nächste Akt im Brexit-Drama hat begonnen. Ein Schauspiel, das an Absurdität kaum zu toppen ist und unaufhaltsam seinem tragischen Höhepunkt zustrebt.

Nur noch viereineinhalb Monate, dann läuft die verlängerte Frist für den EU-Ausstieg Großbritanniens ab. Ein historischer Bruch steht bevor. Doch die Kandidaten für die Nachfolge von Premier Theresa May überbieten sich gegenseitig mit unhaltbaren Versprechungen. Briten und Kontinentaleuropäer müssen sich auf heftige politische und wirtschaftliche Verwerfungen einstellen. Beim Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs Donnerstag und Freitag wird darüber zu reden sein.

Wohin hat sich eigentlich der sprichwörtliche britische Pragmatismus verflüchtigt? Das Land, das sich rühmt, die älteste Demokratie der Welt zu sein, zeigt, wie weit der politische Strukturwandel ganze Gesellschaften in die Irre führen kann. It's a shame, really.

Eine vernünftige Regierung und eine regierungsbereite Opposition würden in dieser Lage realistische Pläne für den Tag nach dem Tag X vorlegen. Denn dies ist inzwischen das wahrscheinliche Szenario: Am 31. Oktober wird Britannien aus der EU aussteigen, ohne dass ein Abkommen in Kraft ist. Eine Situation, die das britische Parlament mit Mehrheit ausgeschlossen hat, die sich aber dennoch zu materialisieren droht.

Zu allen übrigen Problemen drohe dem Königreich auch noch eine Verfassungskrise, prophezeite kürzlich die Zeitschrift "Economist". Was dann geschieht, ist offen. Die bisherige Totalblockade zwischen Parlament und Regierung vermittelt einen schwachen Eindruck vom Chaos-Potenzial im Post-Brexit-Britannien.

Doch von geordneter Vorbereitung ist nichts zu sehen. Stattdessen versprechen die führenden Kandidaten das Blaue vom Union Jack.

"Wir müssen optimistisch sein"

Boris Johnson

Boris Johnson

Foto: WILL OLIVER/EPA-EFE/REX

Zum Beispiel Boris Johnson. Er will mehr Geld für Infrastruktur, Bildung und vor allem "unseren fantastischen NHS", die staatliche Gesundheitsversorgung, lockermachen. Außerdem will er die Einkommensteuern senken. "We must be optimistic about our amazing potential", wirbt der Ex-Außenminister, eine der Führungsfiguren der Brexit-Kampagne und möglicher nächster konservativer Premier.

Steuersenkungen haben diverse Tory-Kandidaten im Programm; in der bevorstehenden Woche stellen sie sich in mehreren Wahlgängen der Parlamentsfraktion. Jeremy Hunt, bisher Außenminister, möchte die Unternehmenssteuern massiv senken. Michael Gove, der bisherige Umweltminister, möchte die ertragreiche Mehrwertsteuer abschaffen.

Auf der Linken herrscht ein gänzlich anderer Zungenschlag, von Steuersenkungen ist nicht die Rede. Aber auch dort wird das Füllhorn ins Schaufenster gestellt: Labour wirbt für eine epochale Ausweitung der Staatsausgaben für Arbeiter, Industrie, Familien, Investoren und so weiter. 

Das klingt gut - und extrem teuer. 250 Milliarden Pfund sollen allein in die Infrastruktur fließen. Das "größte Wohnungsbauprogramm seit 30 Jahren" wird in Aussicht gestellt, natürlich mehr Geld für den NHS, staatliche Unterstützung für Industrieunternehmen und vieles mehr.

Labour hat realistische Chancen, nach der nächsten Wahl den Premierminister zu stellen. Parteichef Jeremy Corbyn möchte insbesondere die Wirtschaft auf links krempeln. Ein Programm, das innerhalb der EU nicht möglich wäre, weil massive Subventionen im europäischen Binnenmarkt als Wettbewerbsverzerrungen gelten und deshalb verboten sind.

Man kann das alles erfrischend finden. Aber das wird nicht lange gut gehen.

Jeremy Corbyn

Jeremy Corbyn

Foto: Toby Melville/REUTERS

Einfache Storys, wenig Wahrheitsgehalt

Der britische Staat gibt schon heute zu viel Geld aus - oder er nimmt zu wenig Steuern ein, je nach Blickwinkel. Die öffentliche Schuldenquote hat sich seit der Finanzkrise mehr als verdoppelt; sie liegt jetzt bei 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Im laufenden Haushaltjahr wird der Staat laut Prognose des Industrieländerklubs OECD ein Defizit von gut zwei Prozent des BIP fahren.

Natürlich, für eine normale Volkswirtschaft unter normalen Umständen ist der Zustand der Insel-Finanzen keineswegs dramatisch. Aber in einem Land, das dabei ist, seinen Heimatmarkt - die EU - zu verlassen, und unter ungeklärten Verfassungskonflikten leidet, liegen die Dinge nun mal anders.

Britanniens Achillesferse ist seine Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Das Defizit in der außenwirtschaftlichen Bilanz liegt dieses Jahr zwischen fünf und sechs Prozent des BIP. Das heißt: Die britische Volkswirtschaft lebt über ihre Verhältnisse. Das geht solange gut, wie Investoren britische Schuldner für solvent halten.

Sollten jedoch Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des Staates aufkommen - was im Zuge einer tiefen Wirtschaftskrise infolge des Brexits durchaus passieren kann -, droht der Strom an ausländischem Kapital zu versiegen. Nervosität an den Finanzmärkten könnte eine Kettenreaktion auslösen, bei der das Pfund weiter fällt und die Zinsen steigen, wodurch sich die Krise abermals verschärft.

Zu spüren bekämen das vor allem die ganz normalen Bürger, deren Realeinkommen geschmälert würden und die zusätzlich belastet würden, sollten die Steuern erhöht werden müssen, um das Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen.

Wer auch immer künftig in London regieren wird: Ein solches Szenario zu verhindern, sollte oberste Priorität sein.

Aber bei diesen Kandidaten kann man sich nicht sicher sein, ob sie ihre großen Versprechungen nicht doch ernst meinen. Die Wortführer von rechts und links blenden - typisch für Populisten - Zielkonflikte, Restriktionen und negative Folgewirkungen ihrer Politik aus. Deshalb sind die Geschichten, die sie dem Wahlvolk erzählen, so schön einfach. Nur haben ihre Storys leider mit der Realität nicht sonderlich viel zu tun. Aber das kennen wir ja noch aus der Kampagne vor dem Brexit-Referendum vor drei Jahren.

"Geographie der Unzufriedenheit"

Dass die Briten permanent über ihre Verhältnisse leben, liegt auch an ihrer in Teilen schwachen Wirtschaft. Seit Jahren verliert das Königreich Anteile an den Exportmärkten, wie Zahlen der EU-Kommission zeigen . Das gilt inzwischen nicht nur für die Industrie, sondern auch für den Dienstleistungssektor, die eigentliche Stärke der britischen Wirtschaft.

Trotz einiger Weltklasse-Unis und -Forschungseinrichtungen gibt Britannien insgesamt zu wenig für Forschung und Entwicklung aus, nur 1,7 Prozent des BIP (Deutschland: mehr als drei Prozent). Britische Konzerne, früher deutlich profitabler als ihre Wettbewerber in den USA oder auf dem Kontinent, haben in den vergangenen Jahren gelitten .

Der Immobilienboom, lange zugleich Treiber der Wirtschaft und Ärgernis der Besitzlosen, ist zu Ende. Seit dem zweiten Quartal 2018 stagnieren die Häuserpreise.

Zwischen 2000 und 2016 haben nur London, Schottland und der englische Nordwesten vom Wirtschaftswachstum profitiert, der Rest des Landes hat teils spürbar an Wohlstand verloren, hat die OECD in einem kürzlich erschienenen Bericht vorgerechnet . Es gebe eine "Geographie der Unzufriedenheit"; der ökonomische Niedergang und das Abstimmungsverhalten beim Brexit-Referendum 2016 seien regional ziemlich deckungsgleich.

Wenn Boris Johnson von Britanniens "amazing potential" schwärmt, wenn Labour über den Notstand bei der öffentlichen Infrastruktur klagt, dann haben vermutlich beide recht. Leider wird der Brexit die Lage weiter verschlechtern.

Es kann übrigens noch schlimmer kommen: Bei der Europawahl holte Nigel Farage mit seiner "Brexit Party", erst im Januar gegründet, die meisten Stimmen auf den Inseln. Die Tories hingegen stürzten ins Bodenlose. Britanniens Parteiensystem, bislang von Konservativen und Labour dominiert, fächert sich auf. Unter den Bedingungen des britischen Mehrheitswahlrechts haben nun auch die bislang kleineren Parteien Chancen, Kandidaten ins Parlament zu schicken. Dadurch könnten sie für Wähler attraktiv werden, die bislang nur halbherzig für Tories oder Labour stimmten, weil sie ihre Stimme nicht wirkungslos verschenken wollten.

Denkbar, dass demnächst ein Premier auf die parlamentarische Unterstützung von Nigel Farage und seiner Truppe angewiesen ist. It's a shame, really.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

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