Großbritanniens Vorbild Schweiz "Niedrige Steuern allein bringen keinen Aufschwung"

Innenstadt von Zürich
Foto: © Arnd Wiegmann / Reuters/ REUTERS
Marco Salvi, 47, ist Ökonom und Forschungsleiter bei Avenir Suisse , dem Thinktank der Schweizer Wirtschaft. 2013 erschien sein Buch "Zwischen Last und Leistung: Ein Steuerkompass für die Schweiz".
SPIEGEL ONLINE: Herr Salvi, die Schweiz gilt den Brexiteers als Vorbild: nicht in der EU - aber ökonomisch trotzdem sehr stark. Nun will Großbritannien die Unternehmenssteuern senken, um die wirtschaftlichen Folgen des Brexit auszugleichen. Das hat die Schweiz in den Neunzigerjahren ebenfalls getan, dann folgte ein beeindruckender Aufstieg. Welchen Anteil hatten die niedrigen Steuern daran?
Salvi: Einen kleineren, als es auf den ersten Blick erscheint. Es ist gelungen, viele Unternehmen ins Land zu locken, ja. Viele multinationale Konzerne haben nun Zentralen in der Schweiz. Zudem sind viele Gesellschaften entstanden, über die die Multis beispielsweise ihre Lizenzen und Patente verwalten - dafür gelten besonders niedrige Steuern. Allerdings haben diese Unternehmen oft wenig Personal, die sogenannte Realwirtschaft haben diese Ansiedlungen also kaum angekurbelt, und auch am Arbeitsmarkt sind sie nicht entscheidend. Profitiert hat die Schweiz dennoch davon, aber eher indirekt.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Salvi: Geholfen hat es vor allem dem Staat, trotz der niedrigen Sätze. Er hatte beträchtliche Mehreinnahmen aus der Unternehmenssteuer. Und die hat er auch in Bildung gesteckt, etwa in die Hochschulen, die nun im internationalen Vergleich exzellent sind. Gut, vielleicht haben wir zudem ein paar Tunnel zu viel gebaut (lacht). Aber im Großen und Ganzen hat der Staat sinnvoll investiert und das Geld nicht zum Fenster herausgeworfen. Wer aber glaubt, dass niedrige Unternehmenssteuern allein zu Aufschwung führen, der irrt.
SPIEGEL ONLINE: Aber in der Schweiz hat es funktioniert, wieso sollte es nun nicht auch in Großbritannien so sein?
Salvi: Verstehen Sie mich nicht falsch: Aus wirtschaftsliberaler Sicht sind niedrige Unternehmenssteuern gut. Dadurch wird die Kapitalbildung angekurbelt, was auch den Arbeitnehmern zugutekommt. Aber es reicht noch lange nicht, die Sätze zu senken. Schauen Sie nach Litauen, Tschechien oder Estland - alle haben noch niedrigere Steuersätze als die Schweiz. Und, haben sich dort Konzernzentralen angesiedelt? Kaum. Steuerwettbewerb funktioniert weit komplexer. Das Gesamtpaket muss stimmen: Sie brauchen einen funktionierenden Finanzplatz und die passenden Dienstleistungen. In der Schweiz waren das unter anderem Anwaltskanzleien, die auf Patent- und Lizenzrecht spezialisiert sind.
SPIEGEL ONLINE: London ist ein starker Finanzplatz und Großbritannien eine Dienstleistungsgesellschaft. Die Voraussetzungen sind also gut.
Salvi: Ja, aber das Steuersystem auszutarieren, ist eine hohe Kunst. Sie dürfen nicht vergessen: In der Schweiz sind die Steuern nur für die Unternehmen niedrig, die von heute auf morgen wieder abwandern können: Patent- und Lizenzverwalter und Multis, die ihre Geschäfte weltweit machen. Hingegen sind die Steuersätze für Unternehmen, die auf dem Schweizer Markt selbst aktiv sind, aber auch für Schweizer Multis, die in der Schweiz produzieren oder forschen, weit höher. Wenn Sie aber die Steuern für alle Unternehmen stark senken, sind zumindest am Anfang die Einnahmeausfälle für den Staat sehr hoch. Die muss er dann ausgleichen, entweder durch höhere Mehrwert- oder Einkommensteuern - oder er muss drastisch sparen. Alle Optionen sind politisch schwer durchsetzbar, nicht nur bei den eigenen Wählern: So muss jetzt die Schweiz auf Druck der EU und der G20 die privilegierte Besteuerung der Multis aufgeben.
SPIEGEL ONLINE: Wenn niedrige Unternehmenssteuern nur einen kleinen Teil dazu beigetragen haben - was macht die Schweizer Wirtschaft dann so stark?
Salvi: Eine ganze Reihe von Faktoren: Der liberale Arbeitsmarkt - und zwar nicht nur, weil Firmen einfacher und schneller kündigen können - und damit leichter anheuern - als etwa in Frankreich oder Deutschland. Sondern auch, weil sie Arbeitskräfte in der ganzen EU anwerben können. Diese hohe Zuwanderung ist einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg der letzten 15 Jahren. Die guten Universitäten habe ich schon genannt, aber mindestens ebenso wichtig ist das hohe Ansehen der Berufslehre, das es in Deutschland auch gibt. Nicht zuletzt ist es die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, die in der Schweiz von beiden Seiten noch vernünftig betrieben wird. Abstrakter ausgedrückt ist es die Fähigkeit unserer Wirtschaft, sich an Gegebenheiten anzupassen, sich zu verändern. Leider drohen Populismus und Nationalismus, diese Flexibilität einzuschränken.
SPIEGEL ONLINE: Die Schweiz hat mehr als hundert Verträge mit der EU geschlossen und so fast freien Zugang zum Binnenmarkt. Wie wichtig ist das?
Marco Salvi: Sehen Sie sich die wirtschaftliche Dynamik der vergangenen fünfzehn Jahre in der Schweiz an - das ist der Beweis, wie wichtig diese Verträge für uns sind. Selbstverständlich ist der freie Handel mit so einem großen Markt ein Riesenvorteil. Ganz frei ist er übrigens nicht: Er fehlt beispielsweise bei den Finanzdienstleistungen. Und die herausragende Bedeutung der Zuwanderung aus der EU habe ich schon erwähnt. Zwar werden Regulierungen aus Brüssel auch in der Schweiz angeprangert. Vergessen wird aber, dass die einschneidende Liberalisierung der Versorger - also Post, Telekom und Energie - in der EU viel weiter ist. Hier kann die Schweiz von der EU lernen.
SPIEGEL ONLINE: Die Briten haben offenbar vor allem wegen der Zuwanderung für einen Austritt aus der EU gestimmt - eine Parallele übrigens zu den Schweizern, die vor zwei Jahren in einer Volksabstimmung entschieden haben, die sogenannte Masseneinwanderung zu stoppen. Das Problem ist: Um das umzusetzen, müsste Ihre Regierung die Verträge mit der EU brechen.
Salvi: Die Schweizer Politik dreht sich seit zwei Jahren im Kreis. Darüber macht sich die Schweizer Wirtschaft große Sorgen. Die Verträge mit der EU sind essenziell. Sie zu kündigen, wäre sicher nicht das Ende der Schweiz, aber es würde die Wirtschaft und die Bevölkerung schon spürbar treffen. Die Regierung hat Studien dazu beauftragt, demnach würde die Wirtschaftsleistung im Jahr 2035 um rund fünf bis sieben Prozent niedriger liegen. Das wären aufgerechnet bis zu 36.000 Franken (rund 33.000 Euro - d. Red.), die dadurch jedem Einwohner der Schweiz entgehen würden.
SPIEGEL ONLINE: Wie wird die Entscheidung der Briten für den Brexit in der Schweiz gesehen?
Salvi: Im nationalkonservativen Lager zollt man den Briten Respekt. Der Rest des politischen Spektrums und die Wirtschaftskreise fürchten, dass die Schweiz auf der EU-Agenda nach hinten rutscht und eine Beilegung der Migrationsfrage unmöglich wird. Viele Briten reagieren jetzt so wie viele Schweizer nach der Volksabstimmung vor zwei Jahren: Sie merken, dass eine Abkehr von der EU - die bei ihnen noch viel einschneidender ist - vielleicht doch nicht so gut ist. Und umgekehrt merken viele Schweizer jetzt, dass die vielen Verträge mit der EU vielleicht doch sinnvoll sind - wo die Briten sie so sehr für sich wünschen.

Marco Salvi, Luc Zobrist:
Zwischen Last und Leistung
Ein Steuerkompass für die Schweiz.
Neue Zürcher Zeitung NZZ Libro; 179 Seiten; 38,00 Euro.
Buch bei Amazon: Marco Salvi (Hrsg.), Luc Zobrist (Hrsg.) "Zwischen Last und Leistung"