
Wichtigere Wahlkampfthemen Jenseits von Genderstern und Kurzstreckenflug


Kanzlerkandidatin und -kandidaten Annalena Baerbock, Armin Laschet, Olaf Scholz: Megathemen für die nächsten Jahre angehen
Foto:Oliver Ziebe / dpa
Es sind noch etwa vier Monate, bis die Deutschen wählen sollen, wer künftig im Land bundesregiert. Und der erste Trend scheint klar. Es wird irgendwie auch um Gendersternchen gehen. Oder darum, ob es künftig noch Flüge von Berlin nach Köln gibt. Und wer den CO2-Preis bei 25, 60 oder 120 Euro je Tonne haben will. Und ob die einen in den Kommunismus zurückwollen – und die anderen in den Neoliberalismus. Und wer wie Weihnachtsgeld meldet.
Geht man unter Hinzunahme historischer Erfahrungswerte davon aus, dass Diskussionstiefe und Komplexität mit nahendem Wahltermin nicht zwingend zunehmen, lässt sich erahnen, was uns über den Sommer bevorsteht. Das wäre nicht so schlimm, wenn es in den nächsten vier Jahren nichts weiter außer Gendersternchen und grünes Weihnachtsgeld zu regeln gäbe.
Gibt es aber. Nach allem, was Experten sagen, wird sich in ziemlich genau dieser Zeit entscheiden, ob es gelingt,
alles im Land so aufzustellen, dass größere künftige Klimakatastrophen ausbleiben
das Auseinanderdriften zwischen Gewinnern und Verlierern von Globalisierung und Technotrends zu stoppen;
uns und der Welt neue Schübe an Populismus zu ersparen.
Ein paar Ideen für wirklich wichtige Themen der Zukunft
Hier kommen ein paar Ideen zur thematischen Verbreiterung, bevor das jetzt so weitergeht.
Ein Startvermögen vom Staat für alle
Es lässt sich über statistische Details streiten – ziemlich unbestritten ist, dass es in Deutschland zunehmend zu einem grundlegenden Akzeptanzproblem wird, wenn ein kleinerer Teil der Bevölkerung allein dank steigender Immobilienpreise und Aktien in den vergangenen Jahren enorm viel reicher geworden ist, während 40 Prozent der Leute gar nichts sparen können, das sich an der Börse vermehren ließe.
Die Frage ist also nicht, ob die künftige Regierung etwas tun sollte, sofern ihr am Zusammenhalt im Land gelegen ist – sondern, wie. Wobei sich tatsächlich darüber streiten lässt, ob eine Vermögensteuer an den Verhältnissen so viel ändern würde – wenn die Vermögenden darüber natürlich zwar zetern würden, es sie aber nicht wirklich ärmer und die Ärmeren auch nicht reicher macht.
Dann könnte es besser sein – nur eine Idee –, jedem im Land ein fünfstelliges Startvermögen bereitzustellen, mit dem er oder sie dann in die eigene Bildung oder Altersvorsorge investieren kann. Das wäre mal eine Debatte wert. Ein großer Teil der Leute wird selbst bei bester Sparzulage sonst schwer Vermögen aufbauen können. Nach Berechnung von Markus Grabka vom Sozio-oekonomischen Panel beim DIW in Berlin machen die laufenden Einkommen aus Vermögen mittlerweile fast die Hälfte der Ungleichheit auch zwischen den Einkommen im Land aus*.
Feste Jobs und Minijobs
Ähnliches gilt für das Gefälle zwischen denen, die feste Jobs haben – und denen, die sich in Minijobs und schlecht bezahlter Arbeit plagen. Daran wird sich auf Anhieb wenig ändern, wenn (nur) der Spitzensteuersatz etwas angehoben wird. Wobei das deshalb nicht falsch wäre, immerhin gehören die Spitzensatzsenkungen der Zweitausenderjahre zu den Dingen, die maßgeblich zum Auseinanderdriften der Einkommen beigetragen haben, schreibt Grabka.
Zum Konsens unter Experten ist mittlerweile ohnehin geworden, dass es oft nicht die absoluten Abstände zwischen den Einkommen sind, die für Unmut sorgen – sondern der tatsächliche oder gefühlte Kontrollverlust und die fehlenden Perspektiven, so der Kieler Populismusforscher Robert Gold. Alles deute darauf hin, dass die klassische wirtschaftspolitische Antwort nicht reicht, bei größeren Schocks und Umbrüchen die Verlierer mit Geld zu entschädigen. Zwar hätten Studien gezeigt, dass es in besser aufgestellten Wohlfahrtsstaaten (oder solchen, in denen es keinen Abbau gegeben habe) weniger schnell zu populistischen Auswüchsen kommt. Auf Dauer wollen die Menschen aber für sich sorgen können – und das sei schwer, wenn es in einer Region plötzlich grundlegend und für alle kriselt, weil etwa eine ganze Industrie weggebrochen ist.
Eine vorausplanende Industriepolitik gegen Populismus
Da braucht es eine Politik für wirtschaftlich angeschlagene Gebiete, die im Zweifel dafür sorgt, dass sich je nach Verfügbarkeit entsprechend qualifizierter Arbeitskräfte und Zulieferer neue Industrien ansiedeln – vorab und nicht erst, wenn es schon zu spät ist. Nur wie? Wie lässt sich so etwas machen, ohne dass man es schnöden Bürokraten anvertraut? Und was entscheidet über welche Industrien?
Schon jetzt ist absehbar, dass so eine vorauseilende Politik in den nächsten vier Jahren in manchen Regionen ziemlich dringend nötig wird – wenn etwa in der Autoindustrie zunehmend auf Elektro umgestellt wird; und in einzelnen Regionen Werke mit zigtausend Beschäftigten schließen, die allein auf das Herstellen von Getriebe ausgerichtet sind und im Elektroauto nicht mehr gebraucht werden. Nach Schätzungen der Berater von Boston Consulting zeichnet sich zwar ab, dass es per Saldo alles in allem nach dem Autowandel in Deutschland mehr Jobs als vorher geben wird. Nur steckt hinter dem Saldo, dass in manchen Regionen eine Menge Stellen wegfallen. Und den Betroffenen wird dann wenig helfen, dass es bei Tesla toll läuft. Nach den Berechnungen müssen durch die Umstellung auf Elektromobilität in den nächsten Jahren europaweit rund 1,9 Millionen Beschäftigte neu ausgebildet oder umgeschult werden.
Noch so ein Megathema für die nächsten Jahre.
Eine neue Klimapolitik
Ähnliches gilt für die Großumstellung der Industrie auf grünen Wasserstoff. Nach Schätzungen des Mannheimer Ökonomen Tom Krebs müsste die Bundesregierung alles in allem über die kommenden zehn Jahre rund 100 Milliarden Euro investieren, um unter anderem ein leistungsfähiges Netzwerk zum Transport von Wasserstoff in Deutschland und Europa aufzubauen. Das ist in etwa das Zehnfache der Summe, die bisher für grünen Wasserstoff eingeplant worden ist. Nach Krebs' Vorstellung braucht es dazu eine öffentliche Wasserstoffgesellschaft, die das managt.
Auch das ist ja nichts, was man im Vorbeigehen beschließt – auch wenn sich das Thema nicht so gut für Talkshows eignet. Weniger als offenbar die Frage, wer nun 25, 60 oder 120 Euro je Tonne CO2 einführen will. Dabei sei zweifelhaft, ob sich das Klima überhaupt über CO2-Verteuerung (allein) retten lässt, schreibt Krebs in seiner Studie. Die Lenkungswirkung des CO2-Preises werde überschätzt, und die Preise müssten teils enorm steigen, um genug Verhaltensänderungen auszulösen. Kaum machbar. Da braucht es mehr: jene öffentlichen Investitionen, die es auch zum Aufbau von Elektromobilität braucht.
Mehr Wohlstand trotz Schuldenbremse
Was zur nächsten ziemlich ernsten Frage führt: wer all das bezahlen oder vorstrecken soll – und zur nächsten Verblödungsgefahr im akuten Wahlkampf. Schuldenbremse heilig – oder nicht? Die eigentliche Frage ist eher: wie sich trotz Schuldenbremse sehr viel mehr öffentliche Investitionen in Ladeinfrastruktur, Wasserstoffleitungen, Schulen, Bahnstrecken und etliche andere ermöglichen lassen.
Dass es lohnt, dazu Kredite aufzunehmen, dafür spricht schon die simple Logik, wonach die beste Voraussetzung fürs Schuldentilgen ist, eine leistungsfähige Wirtschaft und viele Beschäftigte zu haben, die dann Steuern zahlen können.
Dafür braucht es eben auch oben genannte Ausgaben. Ein geschwächtes Land hat auch weniger Mittel, Schulden zurückzuzahlen. Nach Schätzungen von Philippa Sigl-Glöckner und ihrem Team von der Denkfabrik Dezernat Zukunft könnten schon innerhalb der geltenden Schuldenbremse rund 50 Milliarden Euro zusätzlich mobilisiert werden, um öffentliche Investitionen und Ausgaben zu finanzieren.
All das lässt sich mit der Neuauflage alter Grabenkämpfe zwischen Marktneurotikern und -apologeten nicht lösen. Da braucht es Schlaueres.
Vorbild USA
Wie sehr das deutsche Wahlgedöns an den immer deutlicher absehbaren Herausforderungen der kommenden Jahre vorbeizugehen droht, lässt sich daran messen, wie in den USA derzeit gehandelt wird. Was der neue US-Präsident Joe Biden wirtschaftspolitisch auf den Weg bringt, folgt ganz offenbar dem Großversuch, ziemlich umfangreich die marode öffentliche Infrastruktur zu modernisieren, schlecht bezahlte Jobs aufzuwerten, dazu die Exzesse der Liberalisierung an den Finanzmärkten zu kontern und etwa eine internationale Mindestbesteuerung für Unternehmen (endlich) durchzubekommen.
Für Harvard-Ökonom Dani Rodrik könnte all das Teil einer neuen Phase gebremster, aber dafür besserer Globalisierung werden – in der es weniger exzessiv an den Finanzmärkten zugeht; wieder mehr Raum für nationale Wirtschaftsmodelle gibt; dazu eine bessere Verteilung der Wohlstandsgewinne; wieder mehr internationale Abstimmung gerade zu globalen Problemen wie dem Klimawandel oder einer Pandemie – und eine Politik, die viel aktiver dafür sorgt, dass gezielt »gute und produktive Jobs« entstehen, nicht irgendwelche.
Für den US-Präsidenten ist schon klar, dass all das, was er jetzt auf den Weg bringt, in den nächsten spätestens vier Jahren bei den Menschen ankommen muss. Sonst könnten die Amerikaner bei der nächsten Wahl wieder stärker dazu neigen, jemanden wie Donald Trump (oder Trump selbst ein zweites Mal) zu wählen – so wie 2016, als gerade jene für ihn stimmten, die in der Zeit davor zu den großen Verlierern von Globalisierung und Wirtschaftsliberalismus zählten.
Es wäre fahrlässig, darauf zu zählen, dass uns das alles nichts angeht. Besser jetzt schon mal ein bisschen mehr besprechen als Weihnachtsgelder, Gendersternchen oder Steuersymbolik.
*Diese und die folgenden Zitate und Studien stammen aus einer Konferenz, die das Forum New Economy diese Woche organisiert hat.