Unternehmer Harald Christ "Wo bleibt die Antwort der Wirtschaftselite auf Chemnitz?"

AfD-Spitzenpolitiker Kalbitz (l.), Höcke (M.) am Samstag in Chemnitz
Foto: Jens Meyer/ AP
Harald Christ, Jahrgang 1972, ist Unternehmer mit politischen Ambitionen. Seit seiner Jugend war er in der SPD aktiv. Im Dezember 2019 trat er aus der Partei aus und wurde schließlich im Frühjahr 2020 Mitglied in der FDP. Christ ist Inhaber der Kommunikationsberatung Christ & Company in Berlin und hatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrere Positionen im Topmanagement von Banken und Versicherungen inne. Seit September 2020 ist er FDP-Bundesschatzmeister.
SPIEGEL ONLINE: Sie fordern von Unternehmern und Spitzenmanagern, sich klar gegen Fremdenhass und rechtsextreme Entwicklungen zu stellen. Wieso gehen Sie ausgerechnet jetzt damit in die Öffentlichkeit?
Christ: Ich vermisse schon länger eine klare Haltung der Wirtschaft gegen den Rechtspopulismus. Aber was seit zwei Wochen in Chemnitz passiert, ist von einer neuen Qualität. Darüber kann niemand mehr hinwegsehen, der Verantwortung trägt.
SPIEGEL ONLINE: Worin besteht diese neue Qualität?
Christ: Die tödliche Messerattacke ist eine schlimme Tragödie für das Opfer und seine Familie. Eine solche Gewalttat muss in einem Rechtsstaat hart verfolgt werden - und das wird sie ja auch. Der Rechtsstaat wird die mutmaßlichen Täter konsequent aburteilen, wenn ihre Schuld erwiesen ist. Diese Tat ist von Rechtsextremen instrumentalisiert worden, um in einer deutschen Stadt Jagd zu machen auf Andersdenkende, Ausländer, Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund. Das Neue ist, dass diese Gewalt gegen Menschen, die nichts mit der Tat zu tun haben, von einer im Bundestag vertretenen Partei politisch legitimiert wird. Der AfD-Co-Vorsitzende Alexander Gauland hat gesagt, es sei "normal" und "legitim", wenn Menschen "ausrasten". Und ein Herr Höcke marschiert an der Spitze eines rechtsextremen Mobs. Wer es bis jetzt noch nicht wusste, sieht in Chemnitz das Gesicht der AfD. Es ist die Fratze des Rechtsnationalismus.

Chemnitz: Chronologie der Ausschreitungen
SPIEGEL ONLINE: Aber erst am Montagabend haben doch 65.000 Menschen in Chemnitz deutlich gemacht, dass sie sich dagegen stellen.
Christ: Dass es eine Gegenbewegung gibt, bei der Künstler Konzerte veranstalten und Bürger auf die Straße gehen und sich engagieren, ist sehr positiv. Aber: Wo bleibt die Antwort der Wirtschaftselite? Ich erwarte von den Chefs der Dax-Konzerne sowie des Mittelstands und nicht zuletzt von den großen, allseits bekannten Familienunternehmern, im Wortsinne Gesicht zu zeigen. Jetzt ist die Courage dieser Verantwortlichen gefragt, aus der Anonymität ihrer Rollen herauszutreten, sich zu einer starken Demokratie zu bekennen - und sich ganz klar gegen Exzesse und eine Pogromstimmung wie in Chemnitz zu stellen. Das sage ich ausdrücklich als Unternehmer und früherer Konzernvorstand, nicht in meiner Funktion als SPD-Wirtschaftspolitiker. Ich rechne es Siemens-Chef Joe Kaeser sehr hoch an, dass er seit Monaten klar Position gegen den Nationalismus der AfD bezieht - aber er ist der Erste und bis jetzt der Einzige aus den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft. Auch zu Chemnitz hat nur Kaeser sich bislang eindeutig geäußert.
SPIEGEL ONLINE: Kaeser kann sich das auch leisten: Siemens hat ausschließlich Unternehmen als Kunden, der Konzern stellt nicht einmal mehr Waschmaschinen oder Telefone selbst her. Die mehr als 15 Prozent AfD-Wähler können Siemens noch nicht einmal boykottieren, selbst wenn sie es wollten. Ist es aber nicht nachvollziehbar, dass - nur als Beispiele - Volkswagen-Chef Herbert Diess oder Günther Fielmann sich zurückhalten, die politische Überzeugung von Leuten anzuprangern, denen sie noch Autos oder Brillen verkaufen wollen?
Christ: Nein, das kann ich ganz und gar nicht nachvollziehen. Meine Ethik, meine Moral, meine Haltung kann ich doch nicht davon abhängig machen. Wir haben als Wirtschaftselite in diesem Land sehr viel Geld verdient, genießen Privilegien. Den Mut zur Verantwortung aufzubringen, ist das Mindeste, was man von uns erwarten kann. Als Unternehmer muss ich in Kauf nehmen, ein paar Geschäfte weniger zu machen. Und als Spitzenmanager das nächste Mal vielleicht nicht mehr als Vorstand bestellt zu werden. Schauen Sie sich doch die Gegendemonstrationen in Chemnitz an: Ganz einfache Leute bekennen dort Farbe. Da kann man als Teil der Wirtschaftselite doch nicht sagen: Was geht mich das an? Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Demokratie weiter unterwandert wird, Sicherheit, Offenheit und Stabilität in Gefahr sind. Das geht uns alle an. Im Übrigen bin ich mir vollkommen sicher, dass eine solch klare Haltung den Geschäften nicht schadet. Im Gegenteil, sie macht auch wirtschaftlich Sinn.
SPIEGEL ONLINE: Das müssen Sie näher erklären.
Christ: In diesem Land leben Millionen Menschen anderer und unterschiedlicher Herkunft, die hier arbeiten, zum Wohlstand beitragen und die Rente mitfinanzieren. Wir kämpfen um qualifizierte Fachkräfte und Studenten aus dem Ausland, die hoffentlich hierbleiben und den Wohlstand von morgen mit erarbeiten. Zwei Drittel der Mitarbeiter unserer Dax-Konzerne haben keine deutsche Staatsbürgerschaft - und nicht nur diese Unternehmen, auch der Mittelstand verkauft inzwischen mehr im Ausland als hierzulande. Ich kann doch nicht Mitarbeiter aus fernen Ländern hier willkommen heißen, Geschäfte mit anderen Ländern und Kulturen machen - und gleichzeitig werden die Menschen aus diesen Ländern von einem rechtsextremen Mob auf offener Straße gejagt, gedeckt von einer im Bundestag vertretenen Partei, der AfD. Was in Chemnitz passiert, dieser Hass, diese Missgunst, das wird in aller Welt aufmerksam verfolgt. Wir wollen so etwas in Deutschland nicht - und es schadet auch dem Standort.
SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht eher ein Problem für Sachsen als für ganz Deutschland?
Christ: Im Ausland wird Sachsen durchaus mit ganz Deutschland gleichgesetzt. Aber selbstverständlich wird es für Sachsen irre schwer, im Wettbewerb der Regionen um internationale Investoren zu bestehen. Welches globale Unternehmen geht denn heute dorthin, wenn es genauso gut nach Rheinland-Pfalz oder NRW kann?
SPIEGEL ONLINE: Die AfD liegt ja bundesweit bei rund 15 Prozent Zustimmung - und wird gerade von Arbeitern überdurchschnittlich oft gewählt. Fällt es Managern vielleicht auch schwer, sich gegen einen so großen Teil ihrer Belegschaft zu stellen?
Christ: Alle Konzerne und der größte Teil des Mittelstands haben eigene Diversity-Programme, für die sie viele Millionen Euro ausgeben. Diversity bedeutet: Schutz von Minderheiten, Eintreten für Toleranz gegenüber sexueller Orientierung und Hautfarben, Offenheit für Andersdenkende und Integration von Menschen. Sich als Manager gegen den Menschenhass zu stellen, muss dann selbstverständlich sein, alles andere wäre verlogen. Als Dax-Chef bedeutet das auch, meinen Mitarbeitern deutlich zu machen, dass jede Form von Rassismus und rechtsextremem Gedankengut im Unternehmen nicht geduldet werden.
SPIEGEL ONLINE: Und wie?
Christ: Ich kenne viele Vorstandschefs und noch mehr Familienunternehmer, die bei ihrer Belegschaft höchsten Respekt und Anerkennung genießen. Die Mitarbeiter achten sehr darauf: Was denkt der Chef, was sagt der Chef, wie handelt der Chef? Deshalb ist es so wichtig, dass sich die bekannten Persönlichkeiten aus Industrie und Wirtschaft jetzt mit den Politikern und den vielen Menschen aus Initiativen und Verbänden auf die Straße stellen und sagen: Wir wollen das nicht.