Stefan Kaiser

Zaghafte Corona-Strategie Europas fataler Geiz

Stefan Kaiser
Ein Kommentar von Stefan Kaiser
Die Pandemie wütet in Europa – doch die EU hat den rettenden Impfstoff zu zögerlich bestellt. Dabei wäre selbst eine All-inclusive-Order bei allen Pharmafirmen günstiger gewesen als weitere Monate im Shutdown.
Impfstoff von Biontech und Pfizer: Zu teuer für die EU?

Impfstoff von Biontech und Pfizer: Zu teuer für die EU?

Foto: JACK GUEZ / AFP

Manchmal kann es in der Politik hilfreich sein zu pokern – das weiß man gerade in Brüssel. Allein im Dezember hat man dort zuerst die abtrünnigen Mitgliedstaaten Polen und Ungarn in den Haushaltsverhandlungen ausgeblufft und anschließend Großbritanniens Premier Boris Johnson beim Ringen um eine Post-Brexit-Vereinbarung abblitzen lassen. Wichtigstes Mittel in solchen Verhandlungen ist das spannungstreibende Zögern bis zur letzten Minute. Am Ende geht dann trotzdem alles irgendwie gut aus. Normalerweise.

Beim Thema Corona-Impfstoff hätte die EU das Pokern besser sein lassen. Im Sommer, als die Infektionszahlen vergleichsweise niedrig waren und es darum ging, genügend Covid-19-Impfstoff zu bestellen für die Zeit, in der die Pandemie wieder schlimmer würde, haben die 27 Mitgliedstaaten zwar die weise Entscheidung getroffen, gemeinsam für alle zu ordern, statt jedes Land in den Einzelkampf zu schicken. Was danach passierte, war allerdings fatal: In den Verhandlungen mit den Impfstoffherstellern hat sich die EU verzockt. Ein Fehler, der jetzt im Winter, auf dem Höhepunkt der Pandemie, nicht nur viele Menschenleben kosten wird, sondern auch sehr viel Geld. Und dass, obwohl die EU mit ihrem Gepoker eigentlich Geld sparen wollte – so zumindest muss man deuten, was man bisher weiß.

Waren Biontech und Moderna der EU zu teuer?

Zunächst die Fakten: Knapp zwei Milliarden Dosen Impfstoff hat die EU seit dem Sommer bei sechs Herstellern bestellt. Das würde theoretisch locker reichen – auch wenn jeder EU-Bürger zwei Impfstoffdosen verabreicht bekäme, wie es bei den meisten Impfstoffen vorgesehen ist. Doch zum einen sind längst nicht alle Impfstoffe zulassungsreif. Die Vakzine des französischen Pharmariesen Sanofi etwa, von dem die EU 300 Millionen Dosen geordert hat, wird wegen diverser Rückschläge frühestens Ende 2021 fertig. Viel zu spät, um in der aktuell dramatischen Situation mit europaweit Tausenden Covid-Toten pro Tag zu helfen.

Zum anderen war die EU ausgerechnet bei jenen beiden Impfstoffen besonders zögerlich, die nun angewendet werden können: Das eine Mittel, für das sich das deutsche Unternehmen Biontech und der US-Pharmariese Pfizer zusammengetan haben, ist bereits seit 21. Dezember zugelassen. Das zweite der US-Firma Moderna soll in den nächsten Tagen die Genehmigung der europäischen Arzneimittelbehörde erhalten.

Beide Impfstoffe hat die EU aber sehr spät bestellt – erst im November, als die anderen Großaufträge an die Pharmakonzerne Sanofi, Johnson & Johnson sowie AstraZeneca längst raus waren, wurden die Verträge mit Biontech/Pfizer und Moderna unterschrieben. Und zwar über eher kleine Mengen: insgesamt 300 Millionen Dosen bei Biontech und 160 Millionen Dosen bei Moderna. Für die gesamte EU. Zum Vergleich: Die USA mit ihren nur rund 330 Millionen Einwohnern hatten sich bereits im Juli 600 Millionen Dosen von Biontech und 500 Millionen von Moderna gesichert. Beide Firmen hatten schließlich auch schon früh vielversprechende Studienergebnisse vorgelegt.

Die Pandemie unterschätzt

Wie kann es sein, dass die EU trotzdem so wenig und so spät bestellt hat? Biontech-Gründer Uğur Şahin zeigte sich jüngst im SPIEGEL-Gespräch verwundert über die zögerliche Haltung der Europäer. »Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle«, vermutet Şahin.

Tatsächlich scheint es, als hätten die beteiligten europäischen Politiker im Sommer unterschätzt, mit welcher Wucht die Pandemie im Herbst und Winter zurückkommen – und wie dringend man dann einen wirksamen Impfstoff brauchen würde. Also knauserten sie offenbar beim Geldausgeben und bestellten gerade von den teuren Impfstoffen lieber nicht so viel.

Denn beim Preis unterscheiden sich die Vakzinen gewaltig. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht, doch eine belgische Staatssekretärin gab kürzlich auf Twitter kurzzeitig Einblick: Demnach kostet eine Dosis Impfstoff von Moderna umgerechnet rund 15 Euro, die von Biontech/Pfizer 12 Euro, und die von AstraZeneca nur 1,78 Euro. Folglich kaufte die EU von AstraZeneca schon im Sommer 400 Millionen Dosen. Ein Schnäppchen. Doch der Billigimpfstoff ist in der EU noch nicht zugelassen – und nach letzten Studien wohl auch deutlich weniger wirksam als die teureren Mittel von Biontech und Moderna.

Die EU hat also nicht nur zu lange gezögert, sondern auch am falschen Ende gespart. Womöglich aus Angst, viele Millionen Dosen überflüssigen Impfstoff bestellt zu haben, orderte man lieber etwas weniger. »Wir waren uns in der EU einig, dass wir nicht alles auf eine Karte setzen dürfen«, verteidigt sich die zuständige EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nun. Doch richtig wäre es gewesen, alles auf alle Karten zu setzen. Oder zumindest auf viele.

EU-Gesundheitskommissarin Kyriakides: »Nicht alles auf eine Karte setzen«

EU-Gesundheitskommissarin Kyriakides: »Nicht alles auf eine Karte setzen«

Foto: Yves Herman / dpa

Die Kosten dafür wären geradezu lächerlich gewesen im Vergleich zu den volkswirtschaftlichen Schäden, die die Coronakrise verursacht. Mal sehr großzügig angenommen, die EU hätte 900 Millionen Dosen Biontech, Moderna und AstraZeneca bestellt – also genug, um jeden Bürger der Union mit jedem Impfstoff zweimal zu impfen: Nach den Preisen der belgischen Staatssekretärin hätte das insgesamt rund 26 Milliarden Euro gekostet – für die gesamte EU. Zum Vergleich: Allein an November- und Dezemberhilfen für zwangsweise geschlossene Betriebe in Deutschland zahlt der Bund mehr als 30 Milliarden Euro. Und laut einer Schätzung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verliert allein die deutsche Volkswirtschaft mit jeder Woche Shutdown rund 3,5 Milliarden Euro. Da lohnt sich die ganz große All-inclusive-Sammelbestellung selbst dann noch deutlich, wenn man auch bei den anderen drei Herstellern jeweils 900 Millionen Dosen für weitere gut 22 Milliarden Euro in Auftrag gegeben hätte.

Nun wenden Verteidiger der EU-Impfstoffpolitik ein, es mache ja keinen Unterschied, wie viel man bestellt habe: Die Hersteller könnten nun mal nicht mehr produzieren als sie es derzeit tun. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Natürlich gibt es Produktionsengpässe. Doch mit Millionen zusätzlicher Aufträge in der Tasche hätten die Pharmafirmen seit Sommer anders planen können – und einen Anreiz gehabt, ihre Kapazitäten noch stärker auszuweiten.

Außerdem kommt es auch auf die Reihenfolge der Bestellungen an. Wer zuerst bestellt, wird schneller beliefert. Das zeigt sich momentan nicht nur am Beispiel der USA, sondern auch an Israel: Das Land mit gerade mal neun Millionen Einwohnern soll bis Ende Januar vier bis fünf Millionen Dosen des Biontech-Impfstoffs erhalten. Medienberichten zufolge soll die israelische Regierung auch einen höheren Preis pro Dosis zahlen.

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Deutschland und der EU bleibt derweil nicht viel anderes übrig, als zu hoffen: Darauf, dass Biontech und Pfizer ihre Produktionskapazitäten doch noch stärker ausweiten können als geplant und dann doch noch etwas mehr Impfstoff früher ankommt. Vor allem aber auch darauf, dass der günstige Impfstoff von AstraZeneca bald zugelassen wird und womöglich doch ausreichend gut wirkt, um die Pandemie stoppen zu können.

Für die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt ist das ein bisschen wenig.

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