Steigende Langzeitarbeitslosigkeit Die Abgehängten der Coronakrise

Arbeitsagentur in München
Foto: © Reuters Photographer / Reuters/ REUTERSDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Es ist gar nicht so lange her, da galt Deutschland als der »kranke Mann Europas«: ein Land voller wirtschaftlicher und sozialer Probleme, ein Sozialstaat am Rand seiner Kräfte. Am offensichtlichsten spiegelte sich dies in der ständig steigenden Zahl von Langzeitarbeitslosen wider: 1,9 Millionen Menschen waren es im Jahr 2006 – Menschen, die nicht nur ein paar Monate, sondern ein Jahr und sehr viel länger keine Arbeit fanden.
Zehn Jahre permanenter Wirtschaftsaufschwung und sinkende Dauerarbeitslosigkeit ließen diese Erinnerung zwischenzeitlich verblassen. Doch seit dem Ausbruch der Coronakrise im März 2020 ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen wieder um mehr als 300.000 auf nun über eine Million gestiegen – und sie wird weiter steigen. Denn die zusätzlichen Arbeitslosen, die die Pandemie seit dem vergangenen Frühjahr verursacht hat, tauchen in der Statistik bislang noch gar nicht auf. Und vor allem wird die Dauerarbeitslosigkeit nach der Krise nicht einfach wieder verschwinden.
Teufelskreis Langzeitarbeitslosigkeit
»Ohne Einstellungsschub wird sich die Arbeitslosigkeit verfestigen«, schreiben Hermann Gartner und Enzo Weber in einem Aufsatz , der an diesem Donnerstag veröffentlicht wird. Die beiden Ökonomen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben sich die Entwicklung der Arbeitslosigkeit nach Wirtschaftskrisen in der Bundesrepublik seit den Siebzigerjahren angeschaut.
»Corona ist für den Arbeitsmarkt ein herber Schlag, aber es hätte schlimmer kommen können. Ein umfassender Einbruch konnte vermieden werden«, sagen die Autoren. Allerdings liege die Dynamik bei den Neueinstellung deutlich unter dem Vorkrisenniveau. Nun drohe wieder eine »Verfestigung der Arbeitslosigkeit« durch Langzeitarbeitslosigkeit. Drei Gründe sind dafür ausschlaggebend:
Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit wird die Berufserfahrung zunehmend entwertet;
Langzeitarbeitslose sind stigmatisiert, andere Bewerber werden bei Neueinstellungen möglicherweise bevorzugt;
erfolglose Arbeitssuche frustriert und demotiviert mit anhaltender Dauer.
Es ist ein Teufelskreis: Je länger die Rückschläge auf dem Arbeitsmarkt dauern, desto länger bleiben Menschen arbeitslos. Und je länger Menschen arbeitslos bleiben, desto schwerer wird es für sie, wieder in Beschäftigung zu kommen – auch nach der Krise.
Anstieg nach jeder Rezession
»Dies spiegelt sich in den praktischen Erfahrungen mit der Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland wider«, sagen die IAB-Forscher. Seit den Siebzigerjahren bis zum Anfang der Nullerjahre galt: Nach jeder Rezession war und blieb die Langzeitarbeitslosigkeit höher als vor der Rezession. Gartner und Weber schauten sich nun dabei auch die sogenannte Übergangsrate an, die misst, wie viele Personen in einem Monat aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung wechseln.
Nach dem zweiten Ölpreisschock Anfang der Achtzigerjahre brach diese Übergangsrate ein und erholte sich lange Jahre nicht mehr. Mit dem Boom der New Economy in den Neunzigerjahren stieg der Wechsel in die Beschäftigung leicht an – um mit dem Platzen der Blase wieder einzubrechen.
Trendumkehr nach Hartzreformen
Der Trend kehrte sich erst 2005 um, »unter anderem infolge der Hartzreformen«, so die IAB-Forscher. Entwicklung war so nachhaltig, dass auch die große Rezession nach der Weltfinanzkrise 2008/2009 ihr nichts anhaben konnte. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wurde weiter abgebaut auf rund 700.000 bis zum Beginn der Pandemie.
Damals waren die Bedingungen besonders günstig: Eine moderate Lohnentwicklung und eine bereits wachsende Beschäftigung vor der Krise begünstigten den schnellen Abbau der Arbeitslosigkeit danach.
Weber und Gartner sind skeptisch, dass sich dies auch dieses Mal wiederholen könnte: »Der Trend steigender Beschäftigung kam schon 2019 zum Erliegen. Auch die Löhne zogen wieder stärker an als zuvor.« Die Kurzarbeit verhindere zwar Entlassungen, aber nicht, dass bereits Arbeitslose länger arbeitslos blieben. Die deutlich gestiegene Dauerarbeitslosigkeit in den vergangenen zwölf Monaten sei deshalb ein Warnsignal.
Das Fazit der IAB-Forscher: Ohne Einstellungsschub werde sich die Arbeitslosigkeit verfestigen. »Für eine Vermeidung bleibender Schäden kommt es entsprechend auf eine zeitnahe Verstärkung der Neueinstellungsquoten deutlich über Vorkrisenniveau an.« Deshalb fordern Weber und Gartner neben der Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen Zuschüsse für Neueinstellungen für eine Phase nach dem letzten Lockdown. »Ein Modell mit zeitweiser Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge würde nicht nur Anreize für zügige Einstellungen schaffen, sondern auch dafür, statt Minijobs sozialversicherungspflichtige Jobs zu schaffen.«