SPD-Wirtschaftsexperte Machnig "Jetzt ist die Zeit, Unternehmen zu unterstützen - und nicht, die Steuern zu erhöhen"

Hauke-Christian Dittrich/ DPA
Angela Merkel und Olaf Scholz hatten es schon vor Wochen in Auftrag gegeben: ein Maßnahmenpaket, um nach dem Abflauen der Corona-Pandemie die Konjunktur anzukurbeln. Noch steht nicht einmal das Volumen fest. Doch ein sozialdemokratischer Thinktank mahnt bereits, bei der Ausarbeitung des Programms keinesfalls zu klein zu denken.
Bis zu 170 Milliarden Euro will das SPD-Wirtschaftsforum in der zweiten Jahreshälfte über Betriebe und Beschäftigte ausgeschüttet wissen. Das ist ein deutlich höherer Betrag als nach der Finanzkrise. Doch das Forum hält solche "enormen finanziellen Belastungen" für unvermeidlich, um das Wachstum zu befeuern und die "Transformation der deutschen und europäischen Wirtschaft" voranzutreiben. So steht es in einem 20-seitigen Konzept, an dem parteinahe Wissenschaftler wie der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum oder der ehemalige Wirtschaftsweise Peter Bofinger mitgearbeitet haben.
Kern ist ein zehn Punkte umfassender Maßnahmenkatalog. Der reicht von einem Schutzschirm für Neueinstellungen über einen Bildungsbonus für Jobsuchende bis zu höheren Hartz-IV-Sätzen für Familien mit Kindern. Der Schwerpunkt des Konzepts aber liegt auf öffentlichen wie privaten Investitionen, die durch ein staatliches Ausgabenprogramm, Hilfen für Unternehmen und dem Abbau staatlicher Vorschriften befördert werden sollen. Von einer "dauerhaften Stärkung der Angebotsseite der Wirtschaft" ist in dem Papier die Rede. Matthias Machnig, Vizepräsident des Forums und früher Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, erklärt im SPIEGEL-Interview die Ziele des Programms.

Matthias Machnig (geboren 1960) war von Oktober 2014 bis April 2018 beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, davor war er Wirtschaftsminister in Thüringen, Staatssekretär im Bundesumweltministerium und Bundesgeschäftsführer der SPD. Heute arbeitet er in der Wirtschaft.
SPIEGEL: Herr Machnig, Sie schlagen ein Konjunkturprogramm vor, das unter anderem niedrigere Steuern für Unternehmen vorsieht. Wollen Sie den Neoliberalismus wieder in der Sozialdemokratie verankern?
Machnig: Nein. Unsere Vorschläge sind nicht gleich neoliberal, nur weil sie auf die Förderung von Wirtschaft, Wachstum und Beschäftigung zielen. Für den Neustart ist neben den Stabilisierungsmaßnahmen ein kräftiger ökonomischer Impuls notwendig, in Europa und Deutschland. Es geht um einen Dreiklang. Wir müssen Nachfrage und Beschäftigung stabilisieren. Wir brauchen mehr private und öffentliche Investitionen, und wir wollen die Transformation unserer Wirtschaft zu mehr Digitalisierung, Klimaschutz und Elektrifizierung vorantreiben. Zudem müssen wir verhindern, dass starke Lobbys das Programm für einen Neustart bestimmen.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Machnig: Neben der Stärkung öffentlicher Investitionen muss es Anreize für mehr private Investitionen geben. Kleinbetriebe sollen ihre jetzigen Verluste mit den bereits 2019 bezahlten Steuern verrechnen können. Das ist notwendig, um mittelständische Firmen durch die Krise zu bringen. Direkte Zulagen, verbesserte Abschreibungsbedingungen und Eigenkapitalförderung würden zusätzliche Anreize für Investitionen setzen. Die private Nachfrage würde gestärkt, wenn wir die für 2021 geplante Senkung des Solidaritätszuschlags auf dieses Jahr vorziehen.
SPIEGEL: Sie wollen auch Regulierungen abbauen und Genehmigungsverfahren verkürzen. Das klingt wie aus einem Forderungspapier der Wirtschaftsverbände.
Machnig: Wenn es heutzutage 59 Monate dauert, um ein neues Windrad zu genehmigen, dann ist das eine Investitionsbremse. Wir sind deshalb gut beraten, unnötige Bürokratie abzubauen. Wir schlagen zum Beispiel vor, für zwei Jahre keine neuen regulatorischen Standards für Investitionen oder Bauprojekte festzulegen. Ein solches Moratorium würde den Unternehmen Sicherheit geben, dass sie ihre Projekte so durchziehen könnten, wie sie sie heute planen. Notwendig ist zudem das europäische Beihilfe- und Wettbewerbsrecht zu flexibilisieren.
SPIEGEL: Mit anderen Worten, der Umweltschutz muss in den nächsten Jahren erst mal zurückstehen.
Machnig: Keineswegs. Die Investitionen in nachhaltige Produktion, in Klimaschutz und in die Digitalisierung müssen gestärkt werden. Darin liegen erhebliche Wachstumschancen. In Wahrheit ist es aber doch so, dass viele unserer heutigen Vorschriften die Einführung neuer Umwelttechniken eher behindern als befördern.
SPIEGEL: Sie wollen auch einen Rettungsschirm für Neueinstellungen aufspannen. Was wollen Sie damit erreichen?
Machnig: Inzwischen haben mehr als 700.000 Unternehmen Kurzarbeit beantragt, und mehr als 20 Prozent der Firmen wollen Stellen abbauen. Um einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu verhindern, muss Beschäftigung gesichert werden. Außerdem brauchen wir Anreize für Neueinstellungen. Firmen, die nach der Krise einen Job schaffen, so schlagen wir vor, sollten die Sozialbeiträge eine Zeit lang vom Staat ersetzt bekommen.
SPIEGEL: Lädt das nicht dazu ein, Mitarbeiter erst zu entlassen, um später staatliche Hilfen für die Neueinstellung zu kassieren?
Machnig: Das muss durch entsprechende rechtliche Regelungen ausgeschlossen werden. Geld soll deshalb auch nur befristet fließen. In dem Zeitraum aber ließen sich so gezielt Neueinstellungen anregen.
SPIEGEL: Ihr Paket soll bis zu 170 Milliarden Euro kosten, das ist rund doppelt so viel wie das Konjunkturprogramm nach der Finanzkrise 2009. Wer soll das bezahlen?
Machnig: Erst mal gilt: Nichthandeln wäre teurer. Die Forschungsinstitute sagen voraus, dass die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um sechs bis sieben Prozent einbrechen wird. Das bedeutet: Die Substanz der deutschen und europäischen Wirtschaft steht auf dem Spiel. Deshalb ist es konsequent und notwendig, energisch gegenzusteuern.
SPIEGEL: Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat angekündigt, möglichst rasch wieder zur Politik der Schuldenbremse und der schwarzen Null zurückkehren zu wollen. Ist das auch Ihre Auffassung?
Machnig: Die Regierung selbst hat die Schuldenbremse vorläufig ausgesetzt. Und eine Rückkehr zur schwarzen Null ist zum jetzigen Zeitpunkt weder möglich noch sinnvoll. Deutschland hat sich durch die solide Haushaltsführung der vergangenen Jahre einen beträchtlichen Spielraum erarbeitet. Jetzt brauchen wir bis auf Weiteres eine expansive Finanzpolitik.
SPIEGEL: Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken fordert eine Vermögensabgabe, um Besserverdienende stärker an den Kosten der Krise zu beteiligen. Was halten Sie davon?
Machnig: In der jetzigen Phase sollten wir uns darauf konzentrieren, aus der Krise wieder herauszukommen. Jetzt ist die Zeit, Unternehmen zu unterstützen, Beschäftigung zu sichern und neue Jobs zu schaffen - und nicht, die Steuern zu erhöhen. Danach wird es natürlich eine Phase geben, in der wir darüber reden müssen, wie wir die Lasten dieser Krise fair verteilen. Ein gerechtes, investitions- und innovationsfreundliches Steuersystem zu sichern, ist eine permanente Aufgabe.