US-Wirtschaft in der Coronakrise Das Alphabet des Absturzes

Arbeitssuchende in New York
Foto: EDUARDO MUNOZ ALVAREZ/ AFPWer in Amerika derzeit einen Job sucht, bewirbt sich am besten beim Arbeitsamt - und das ist wörtlich zu nehmen. Überall im Land suchen die Behörden dringend Personal, um die Flut der Anträge auf Arbeitslosengeld zu bearbeiten. Seit das Coronavirus wütet, sind die Hotlines und Internetseiten in vielen Bewilligungsstellen zusammengebrochen.
Spätestens seit Donnerstagmorgen ist klar, warum: Fast 3,3 Millionen Amerikaner haben sich innerhalb einer Woche arbeitslos gemeldet. Selbst nüchterne Ökonomen hat die Zahl geschockt, die noch verheerender ausfiel als erwartet. Seit einem Vierteljahrhundert kommentiere er jeden Tag die Lage der US-Wirtschaft, erklärte Ian Shepherdson von Pantheon Macroeconomics: "Das hier sind die schlimmsten Daten, die ich je gesehen habe." Er rechnet damit, dass sich die Arbeitslosenquote von zuletzt 3,5 Prozent damit etwa verdoppelt - und in den kommenden Monaten den zweistelligen Bereich erreicht. Andere Experten halten sogar einen Anstieg auf 20 oder 30 Prozent für denkbar.
Neuneinhalb Jahre hat der Aufschwung am US-Arbeitsmarkt angedauert - binnen neun Tagen hat ihn die Coronakrise gekillt. Denn die Wirtschaft der Supermacht steht still. Restaurants, Sportgeschäfte, Handyläden, Autohändler - überall, wo sonst die Dollars fließen, kommt es zum Stillstand. 200 Millionen Menschen in über 20 Bundesstaaten sind behördlich aufgefordert, zu Hause zu bleiben. In den Staaten, die nun alle nicht notwendigen Unternehmen und Geschäfte zwangsweise geschlossen haben, werden regulär mehr als 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Amerika wappnet sich für einen neuen Rekord: Der längsten Expansionsphase der Geschichte könnte nun der steilste Absturz folgen.
"Das Virus diktiert den Zeitplan"
Es sei gut möglich, dass die USA bereits in der Rezession steckten, sagte Notenbankchef Jerome Powell am Donnerstagmorgen im Frühstücksfernsehen von NBC. Nie zuvor seit Bestehen des Senders sei ihres Wissens nach ein Fed-Chairman in der "Today"-Show aufgetreten, wunderte sich die Moderatorin, warum jetzt? "Die Situation ist einzigartig", antwortete Powell. Man habe die Amerikaner gebeten, auf wirtschaftliche Aktivitäten zu verzichten, als eine "Investition" in die öffentliche Gesundheit des Landes: "Sie tun das für das öffentliche Wohl."
Powells Botschaft richtete sich ganz offensichtlich nicht nur an die Millionen Zuschauer, die um ihre Existenz fürchten, während sie zum Nichtstun verurteilt sind. Sondern auch an Donald Trump, der die Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität bis Ostern erzwingen will. "Ganz oben auf der Tagesordnung steht, die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu bekommen", mahnte dagegen der mächtigste Geldpolitiker der Welt. Erst danach könne die wirtschaftliche Aktivität wieder beginnen: "Das Virus diktiert den Zeitplan."
Die meisten Ökonomen teilen diesen Ratschlag. Wenn Trump die "180-Grad-Wende" hinlege und die Beschränkungen für die soziale Interaktion aufhebe, "dann wird das Chaos und Verwirrung schaffen", sagte Mark Zandi, Chefökonom von Moody's Analytics: "Das ist das Rezept für eine Depression." Zandi sieht einen "wirtschaftlichen Tsunami" in drei Wellen über Amerika rollen. Die erste habe den Arbeitsmarkt getroffen. Die zweite werde anlanden, wenn die Besitzer von Aktien und Rentensparplänen begriffen hätten, dass der Wert ihrer Rücklagen an der Börse pulverisiert wurde. Welle drei schließlich werde die ohnehin zögerliche Investitionstätigkeit der Unternehmen einbrechen lassen.
Alles zusammen addiert sich zu einem Szenario des Schreckens. Moody's erwartet einen Rückgang des BIP um fast 30 Prozent (Jahresrate) im zweiten Quartal. Allerdings würde das 2000-Milliarden-Dollar-Hilfspaket, das der Senat in der Nacht zu Donnerstag verabschiedet hat, den Einbruch demnach auf minus 17 Prozent abfedern. Am Freitag will auch das Repräsentantenhaus den Hilfen für Bürger, Unternehmen und Bundesstaaten zustimmen.
Konjunkturprogramm gegen "Lecks im Boot"
Von einem Konjunkturprogramm aber will niemand sprechen, obwohl die geplanten Ausgaben fast zwei Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts erreichen. Denn anders als beim klassischen Stimulus geht es diesmal nicht darum, eine Rezession aufzuhalten, sondern den Absturz vieler Menschen ins Bodenlose zu verhindern. Die Maßnahmen dienten nicht dazu, das Schiff in Fahrt zu bringen, sondern "die Lecks im Boot zu stopfen", sagte Michael Pugliese von Wells Fargo Securities dem "Wall Street Journal".
Die Frage lautet nicht mehr, wie die nächsten Monate werden. Die Antwort darauf ist klar: schrecklich. Diskutiert wird darüber, was kommt, wenn das Schlimmste vorüber ist. Es sind die Buchstaben aus dem Alphabet des Absturzes: V, U oder L.
Die Optimisten setzen darauf, dass die BIP-Kurve genauso rasant wieder hochschießt, wie sie nun abstürzt: das V-Modell. Der Ökonomie-Professor Tyler Cowen vergleicht die Lage mit dem Zweiten Weltkrieg. Diesmal sei das Virus der Gegner, und wenn es besiegt sei, könnte ein Nachkriegsboom folgen. Denn dann würden die Verbraucher alle jetzt zurückgestellten Anschaffungen nachholen. Auch der Präsident der Federal Reserve Bank von St. Louis, James Bullard, rät den Amerikanern, sich nicht entmutigen zu lassen. Das kommende Quartal sei nicht die Normalität: "Wenn wir unsere Karten richtig ausspielen und dafür sorgen, dass alles intakt bleibt, dann wird jeder zurück an die Arbeit gehen, und alles wird gut sein."
"Bald wird mehr gebraucht"
Andere bezweifeln, dass sich die Uhr so einfach zurückdrehen lässt. Sie sagen eine "U"-Erholung voraus, die ein IWF-Ökonom einmal als Badewanne beschrieb: Man kommt nicht ohne Mühe wieder heraus. Doch auch das L-Szenario macht die Runde, bei dem es nach dem Absturz für lange Zeit nicht mehr aufwärts geht. Auch dafür gibt es gute Argumente: Amerikas Unternehmen und Verbraucher sind hoch verschuldet. Vielen kleinen Firmen, die rund die Hälfte der Beschäftigung in den USA ausmachen, dürfte schnell die Puste ausgehen.
In einer Umfrage der Investmentbank Goldman Sachs unter 1500 Unternehmen sagte jeder Zweite, dass er mehr als ein Quartal Stillstand nicht überstehen werde. Und die Krise hat Kettenreaktionen in Gang gesetzt: Erst kann der Ladeninhaber seine Miete nicht mehr zahlen, dann gerät der Vermieter mit der Bedienung der Hypotheken in Verzug und schließlich türmt sich in der Bankbilanz ein Problem auf.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 120 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Entscheidend dürfte am Ende sein, wie lange das Virus wütet - und ob es der Fed und dem Staat gelingt, die Zeit bis dahin sozusagen "einzufrieren", wie das der MIT-Finanzprofessor Jonathan Parker nennt. Ökonom Shepherdson von Pantheon Macroeconomics ist skeptisch, dass das mit dem neuen Hilfsprogramm gelingt. "Zwei Billionen Dollar sind eine Menge", gibt er zu, aber: "Bald wird mehr gebraucht werden."