S.P.O.N. - Die Spur des Geldes Warum Deutsche fallende Preise fürchten
Der britische Premierminister Benjamin Disraeli machte im 19. Jahrhundert die Beobachtung, dass es drei Formen von Lügen gibt: "Lügen, verdammte Lügen und Statistiken". Das Paradebeispiel unserer Zeit ist die Aussage einer GfK-Umfrage für SPIEGEL ONLINE, wonach 92,3 Prozent aller Deutschen die Inflation erwarten, 37,5 Prozent gehen sogar von einem starken Preisanstieg aus. Und nur 1,4 Prozent rechnen mit einer Deflation.
Das Thema ist von ungemeiner Bedeutung. Ob es zu Inflation - also steigenden Preisen - oder Deflation - und damit sinkenden Preisen - kommt, davon hängt nicht weniger als die Zukunft des Euro ab.
Denn wenn die Deflation eintritt, passieren zwei Dinge: Der Wert der griechischen, spanischen und italienischen Schulden würde steigen und die Länder in den Staatsbankrott zwingen. Und die ganze Wirtschaft im Euro-Raum würde in eine Depression fallen. Wer damit rechnet, dass die Preise fallen, der kauft sich den Kühlschrank erst im nächsten Jahr, weil er dann billiger sein dürfte. Im nächsten Jahr kauft er ihn dann aber auch nicht, denn schließlich könnte er im Jahr darauf noch mal billiger werden.
Es ist völlig legitim, Verbraucher nach ihren Inflationserwartungen zu fragen. Das Problem ist nur: Die Befragten geben auf eine ganz andere Frage eine Antwort; nämlich darauf, wie sie die Entwicklung der Kaufkraft einschätzen. Genau das ist bei der aktuellen GfK-Umfrage passiert.
Kaufkraft ist - wie der Name schon sagt - das, was ich mit meinem Lohn anschaffen kann. Ich kann aber nicht die Inflation direkt beobachten. Ich müsste mich schon von meiner eigenen Situation abkoppeln und Warenkörbe in Supermärkten landauf, landab wissenschaftlich untersuchen. Ich schätze mal, dass kaum einer der 92,3 Prozent über den Rand der eigenen Lohntüte blickte. Wozu auch?

Gefährlicher Preisverfall: Wie Deflation entsteht
Was aber passiert, wenn ich in meine Lohntüte starre und feststelle, dass mein Gehalt um ein Prozent gestiegen ist, die Inflation aber bei zwei Prozent lag? Dann habe ich an Kaufkraft verloren. Die gefühlte Inflation ist hoch. Wenn mein Einkommen im nächsten Jahr dann plötzlich um drei Prozent steigt - bei unveränderter Inflation - dann steigt meine Kaufkraft. Die gefühlte Inflation fällt. Objektiv hat sich aber an der Inflationsrate nichts geändert.
Genau das ist jetzt passiert. Nach Erhebung des Statistischen Bundesamtes ist die Kaufkraft in Deutschland im Jahre 2013 tatsächlich gefallen. Die Löhne stiegen um 1,3 Prozent, die Inflation betrug 1,5 Prozent. Der Reallohn fiel also um 0,2 Prozent. Und damit fühlte sich die historisch geringe Inflationsrate relativ hoch an.
Für den Euro-Raum ist das ein Riesenproblem. Die Europäische Zentralbank hat ein Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent pro Jahr. Da wir Griechenland, Zypern, Spanien und Portugal dazu verdonnert haben, ihre Inflation unter den Euro-Durchschnitt zu drücken, gibt es nach Adam Riese nur eine Möglichkeit: Deutschland braucht eine Inflation von mehr als zwei Prozent. Aber genau das Gegenteil passiert. Die Inflation in Deutschland und im Euro-Raum sinkt und sinkt.
Ein anderes Indiz, warum die Inflationserwartungen nicht hoch sein können, liegt in den Marktpreisen. Wenn die Deutschen jetzt wirklich eine höhere Inflation erwarten würden, dann könnten sie sich eine goldene Nase verdienen, indem sie normale Staatsanleihen verkaufen und solche kaufen, deren Ertrag sich automatisch an die Inflationsraten anpasst. Das ist aber nicht in großem Maße passiert. Wenn so viele Deutsche so sicher in ihren Erwartungen wären, warum haben dann die Preise nicht darauf reagiert?
Wahrscheinlicher ist, dass es hier um eine von Disraelis Statistiken handelt. Das Problem ist nicht, dass sie falsch ist. Auch wir Kolumnisten liegen oft in unseren Einschätzungen daneben. Das Problem liegt darin, dass sie uns eine falsche Sicherheit vorgaukeln: Dass wir uns um die Deflation keine Sorgen zu machen brauchen, wenn alle Welt eine Inflation erwartet. Das ist brandgefährlich. Auch Japan fiel in den neunziger Jahren in eine Deflation, nachdem sich alle um die Inflation sorgten.
Auch wenn die Deutschen es nicht wissen und erst recht nicht zugeben: Unsere Inflationserwartungen sind gefallen. Und genau das ist das Problem.
