Henrik Müller

Demografie Wir sind reif für eine Agenda 2030

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Der Eindruck von der stabilen Wirtschaft trügt: Die nächste Bundesregierung wird ein umfassendes Reformpaket schnüren müssen, um den Standort Deutschland zu sichern – und vor allem in junge Menschen investieren.
Junge Arbeitnehmer: Schon bald Mangelware

Junge Arbeitnehmer: Schon bald Mangelware

Foto: EschCollection / Getty Images

Es ist Wahlkampf. Und es gibt eine sehr reale Bedrohung für Deutschland. Aber die will offenbar keine der Parteien zu ihrem Thema machen, stattdessen ist Heimeligkeit angesagt: Nach anderthalb guten Jahrzehnten scheint die Wirtschaft wie von allein zu laufen. Wenn die Pandemie erst überstanden ist, kann es in etwa weitergehen wie bisher – gern weniger klimaschädlich und gerechter, aber um das solide wirtschaftliche Fundament muss sich niemand sorgen. Das scheint die Grundmelodie der Kampagnen zu werden.

Dabei steht Deutschland in diesem Jahrzehnt eine fundamentale Trendwende bevor: Ab 2023 wird die Beschäftigung zurückgehen – und zwar nicht etwa, weil uns die Arbeit ausginge, sondern weil es immer weniger Menschen im beschäftigungsfähigen Alter gibt. Die demografische Wende, seit vielen Jahren vorhergesagt, findet nun tatsächlich statt.

Ihre Auswirkungen sind kaum zu überschätzen. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben es gerade vorgerechnet: Der Expansionspfad der deutschen Wirtschaft flacht immer weiter ab. In den kommenden Jahren dürfte sich die Wachstumsrate der Produktionsmöglichkeiten (»Potenzialwachstum«) deutlich verlangsamen. 2025 wird sie bei nur noch 0,7 Prozent liegen, halb so viel wie Mitte der 2010er-Jahre, prognostizieren Forscher in ihrer aktuellen Gemeinschaftsdiagnose . Die Zahlen sind pessimistischer als frühere Vorhersagen, da die Institute davon ausgehen, dass die Coronakrise die Situation noch mal verschärft hat.

Deutschland ist abgeschlagen auf Platz 125

Allerdings sind wir der demografischen Entwicklung keineswegs schicksalhaft ausgeliefert. Alternde und schrumpfende Gesellschaften brauchen sich keineswegs einer schleichenden Verarmung zu ergeben. Sie können gegensteuern. Aber sie müssen es entschlossen tun. Denn die demografische Wende birgt die Gefahr, dass nicht nur die Beschäftigung zurückgeht, sondern auch die Dynamik bei Investitionen und Innovationen abflaut.

Zu tun gibt es für die nächste Bundesregierung in dieser Hinsicht wahrlich genug. Die Coronakrise hat schonungslos offengelegt, wie groß der Rückstand bei der Digitalisierung ist. Dazu kommt eine schwerfällige öffentliche Verwaltung. So machen es bürokratische Hürden Unternehmensgründern unnötig schwer, ins Geschäft zu kommen; beim »Ease of starting a business«-Ranking  der Weltbank belegt Deutschland aktuell Rang 125 – weit hinter den skandinavischen und den angelsächsischen Ländern, aber auch hinter Frankreich.

Die demografische Wende wird sich umso leichter abfedern lassen, je besser es gelingt, die Produktivität der verbleibenden Werktätigen zu steigern und möglichst viele Leute in den Arbeitsmarkt zu locken und dort zu halten.

Leider ist das deutsche Abgabensystem für Leute mit niedrigen und mittleren Einkommen nicht gerade leistungsfreundlich. Durchschnittsverdiener und ihre Arbeitgeber müssen von jedem zusätzlich verdienten Euro 60 Cent an den Staat abgeben. Für Paare mit Kindern ist die Belastung zwar etwas niedriger, aber auch ihnen werden bei steigenden Löhnen mehr als 50 Prozent abgezogen. Die hohe Grenzbelastung mindert die Leistungsbereitschaft und erschwert die soziale Mobilität. Wer sich anstrengt und fortbildet und dadurch sein Gehalt verbessert, stellt beim Blick auf die Lohnabrechnung fest, dass der größere Teil an die Sozialversicherungen und das Finanzamt abfließt. Erst für Beschäftigte mit deutlich überdurchschnittlichen Einkommen sinkt die Grenzbelastung wieder. Das ist ineffizient und unfair: In anderen Ländern steigt die Belastung mit zunehmendem Einkommen dagegen.

Wer die Grenzbelastung der Niedrig- bis Durchschnittsverdiener senken will, muss an die Strukturen des Sozialstaats gehen. Denn diese Einkommensgruppen lassen sich nur wirksam entlasten, wenn ihre Sozialversicherungsbeiträge sinken; die Lohn- und Einkommensteuer fällt bei ihnen nicht groß ins Gewicht. Eine solche Reform wäre ein politischer Kraftakt – und ein lohnendes Projekt: Angesichts der demografischen Entwicklung dürfte es Beschäftigte motivieren, ihre Produktivität zu steigern, was wiederum Unternehmen zum Investieren animieren könnte.

Es wird am falschen Ende gespart

Um die Bedingungen für Investitionen und Innovationen langfristig abzusichern, müssten vor allem die kleineren Kohorten der Jungen möglichst gut ausgebildet werden. Auch da ließe sich eine Menge verbessern. Immerhin sind die Ausgaben für die Schulen im vorigen Jahrzehnt moderat gestiegen. Anders sieht die Situation bei Universitäten und Hochschulen aus: Pro Student sind die Ausgaben im vorigen Jahrzehnt um 1,3 Prozent jährlich  gesunken , so die OECD. Deutschland gibt deutlich weniger Geld für den akademischen Nachwuchs aus als vergleichbare Länder, und das liegt nicht nur daran, dass hierzulande keine Studiengebühren erhoben werden. Die Finanzausstattung der Hochschulen hält nicht mit den steigenden Studierendenzahlen Schritt.

Nun richten sich die Hochschulen auf noch magerere Zeiten ein. Weil die »Schuldenbremse« die Bundesländer zum Sparen verpflichtet, um von den Coronaschulden herunterzukommen, dürften in den kommenden Jahren die Mittel für die Hochschulen abermals knapper werden. Leidtragende sind nicht nur die Studierenden, sondern auch der wissenschaftliche Nachwuchs, für den absehbar weniger Stellen zur Verfügung stehen werden. Die Bedingungen für universitäre Forschung drohen sich zu verschlechtern – das ist exakt das Gegenteil dessen, was angesichts der demografischen Umbrüche eigentlich notwendig wäre. Der Bund könnte gegensteuern, indem er das Budget der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) aufstockt. Mit 3,3 Milliarden Euro jährlich ist die Ausstattung dieser wichtigsten Institution zur Finanzierung von Hochschulforschung nicht gerade üppig.

Die üblichen Programme

Zu all diesen Punkten findet sich in den bislang vorliegenden Wahlprogrammen der Parteien kaum etwas. Immerhin gibt es bei Grünen und FDP Andeutungen, dass sie das Renteneintrittsalter flexibilisieren wollen. Das wäre in der Tat sinnvoll: Wer will und kann, sollte über das 67 Jahre hinaus arbeiten dürfen. In Zeiten von Arbeitskräfteknappheit und sinkenden Rentenniveaus sollte einer freiwilligen Ausdehnung der Lebensarbeitszeit nichts im Wege stehen.

In Deutschland, so sieht es aus, hat sich in den langen Jahren der Kanzlerschaft Angela Merkels ein enormer Reformrückstand aufgebaut. Die nächste Bundesregierung wird kaum umhinkommen, eine Agenda 2030 zu formulieren: ein Paket, das nicht nur der Klimapolitik, sondern auch den demografischen Herausforderungen hohe Priorität einräumt.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Berlin – Grüne Kandidaten – Habeck oder Baerbock? Die Grünen wollen den Personalvorschlag für ihre Kanzler:innenkandidatur vorstellen.

Tokio – Nach der Krise – Vorläufige Zahlen zum japanischen Außenhandel für März.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Faurecia, IBM, Coca-Cola, United Airlines.

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