Müllers Memo Der Mindestlohn wird für Deutschland zur Falle

Kellnerin im Straßencafé: Noch sind nur Minijobs betroffen
Foto: Joerg Sarbach/ APNoch ist alles gut. Seit Jahresbeginn ist der Mindestlohn in Deutschland Realität - und die angekündigte ökonomische Horrorshow hat nicht stattgefunden. Die Zahl der Beschäftigten steigt weiter, immer neue Rekorde vermeldet die Bundesagentur für Arbeit.
Nach der Debatte der vergangenen Jahre mag dieser vorläufige Befund überraschen. Für die Mehrheit der deutschen Ökonomen war und ist der Mindestlohn Teufelszeug: ein fundamentaler staatlicher Eingriff in den Preisbildungsprozess, der eine Menge Jobs kosten würde, gerade bei Jugendlichen und Menschen mit geringer Qualifikation.
2015 würden wegen der gesetzlich vorgeschriebenen 8,50 Euro pro Stunde "200.000 Stellen verloren gehen", schätzten voriges Jahr die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Der Sachverständigenrat war etwas vorsichtiger: Die "Fünf Weisen" prognostizierten, es würden dieses Jahr "rund 100.000 Minijobs und etwa 40.000 sozialversicherungspflichtige Stellen weniger entstehen", als wenn es den Mindestlohn nicht gäbe - was im Zweifel schwer zu widerlegen ist.
Und nun dies: Der Kahlschlag auf dem Arbeitsmarkt ist ausgeblieben. 42,5 Millionen Menschen waren im März in Deutschland beschäftigt, mehr als 30 Millionen davon sozialversicherungspflichtig. Wie prophezeit, geht die Zahl der hauptberuflichen Minijobber zurück, um 120.000 im Januar, nach vorläufigen Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit. Angesichts der insgesamt guten wirtschaftlichen Lage ist das ein zu vernachlässigendes Phänomen.
Die Handelspartner können sich freuen
Niemand sollte sich von den guten Zahlen einlullen lassen: In der derzeitigen Situation mag der Mindestlohn unproblematisch sein. Er kann sich sogar als sinnvoller Markteingriff erweisen - wenn er denn dazu beiträgt, die gravierenden gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte in Deutschland auszutarieren. Der Mindestlohn wird jedoch zur schwer erträglichen Bürde, sobald sich die wirtschaftliche Lage eintrübt, was zwangsläufig irgendwann der Fall sein wird.
Momentan ist Deutschland das Land mit dem höchsten außenwirtschaftlichen Überschuss weltweit. Keine andere Volkswirtschaft exportiert netto soviel Kapital: dieses Jahr rund eine Viertel Billion Euro. Das heißt: Gemessen an der Wirtschaftskraft wird im Inland zu wenig investiert und konsumiert. Wenn der Mindestlohn nun die Löhne am unteren Ende der Lohnskala steigen lässt, ohne dass deswegen Leute ihren Job verlieren, würde dies die Konsumnachfrage direkt beleben. Das zusätzliche Einkommen wiederum würde zu einem erheblichen Teil für Importe ausgegeben, was unsere Handelspartner, gerade innerhalb der Eurozone, freuen würde.
So gesehen ist der Mindestlohn ein Instrument, um die international massiv kritisierten deutschen Überschüsse einzudämmen. Sowohl in der EU als in den USA steht die Bundesrepublik dafür am Pranger - spätere Sanktionen nicht ausgeschlossen. Und dieser Überschuss droht noch größer zu werden, je tiefer der Euro sinkt. In dieser Situation kann der Mindestlohn helfen, die Nachfrage im Inland anzukurbeln. Der deutsche Ausnahmeboom würde international erträglicher.
Der Mindestlohn als potenzieller Jobkiller
Die positiven Effekte hängen allerdings davon ab, ob es betroffenen Unternehmen gelingt, die höheren Personalkosten auf die Preise umzuschlagen. Im Gastgewerbe sind mehr als 17 Prozent der Beschäftigten vom Mindestlohn betroffen, in der Land- und Forstwirtschaft knapp 13 Prozent, im Einzelhandel 12 Prozent, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ermittelt hat. Sofern sich in diesen Branchen höhere Preise durchsetzen lassen, würde tatsächlich Volkseinkommen umverteilt, wie sich die Bundesregierung das erhofft. Falls das nicht gelingt, kostet der Mindestlohn Jobs. Leidtragende wären dann viele Menschen in Ostdeutschland, wo der Anteil der Geringverdiener laut der IAB-Studie um ein Vielfaches höher ist als im Westen.
So viel ist sicher: Günstiger als derzeit kann die wirtschaftliche Großwetterlage für das Experiment Mindestlohn kaum sein. Die verfügbaren Einkommen vieler Mittel- und Gutverdiener ziehen merklich an. Konsumforscher verzeichnen eine erhöhte Anschaffungsneigung der Bürger. Wenn nun das Bier in der Kneipe, der Haarschnitt beim Friseur, die Wurst an der Supermarkttheke oder die Taxifahrt ein paar Prozent teurer werden, dürfte das viele Kunden nicht weiter stören.
Es wäre jedoch vermessen zu glauben, dass es ewig so weitergeht. Die nächste Krise kommt bestimmt; die Arbeitslosigkeit wird dann wieder steigen. Dann wird der deutsche Mindestlohn zur Falle. Und zwar nicht etwa, weil die Beschäftigten so viel verdienen, sondern weil die deutschen Lohnkosten insgesamt so hoch sind. In kaum einem Land der Welt lasten so hohe Sozialabgaben auf den Jobs wie hierzulande, rechnet die OECD vor. Die Differenz zwischen den Nettoeinkommen der Niedrigverdiener und den Bruttokosten der Arbeitgeber ist groß.
Problematisch an der Einführung des Mindestlohns ist deshalb der damit verbundene Anstieg der Mindestarbeitskosten in Deutschland. Das macht ihn zum potenziellen Jobkiller.
Die Bundesregierung sollte ihr Gesetz deshalb schleunigst für den nächsten Abschwung fit machen und eine antizyklische Abgabenpolitik installieren: Wenn sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt wieder verschlechtert, sollten Jobs am unteren Ende der Lohnskala von Abgaben entlastet werden - damit der Mindestlohn nicht zum Bumerang wird.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche:
DIENSTAG
Budapest - Jenseits von Moskau - Die Pipeline Turkish Stream soll Gas aus Aserbaidschan nach Westen liefern. Die Minister der beteiligten Staaten treffen sich.
MITWOCH
Moskau - Rubel, Trubel - Der pleitebedrohte Griechen-Premier Alexis Tsipras besucht einen ansonsten ziemlich isolierten Wladimir Putin, der sich wohl gern spendabel zeigen würde, aber im eigenen Land mit Finanzstress zu kämpfen hat.
New York - Kick-off - Die Zahlenschau börsennotierter US-Unternehmen beginnt, wie immer, mit dem Aluminiumhersteller Alcoa, der vom Jahresauftaktquartal berichtet. Mutmaßlicher Tenor: Der starke Dollar belastet die Ertragslage.
Tokio - Super-Expansion - Der Gouverneursrat der Bank of Japan tagt. Das größte geldpolitische Experiment der Welt, das "quantitative and qualitative Easing", geht weiter.
DONNERSTAG
Athen/Washington - Zahltag - Die Regierung Tsipras muss 450 Millionen Euro an den Internationalen Währungsfonds zurückzahlen.
London - Zwischen Easing und Exit - Kurz vor den Wahlen zum Unterhaus entscheidet die Bank of England über den weiteren geldpolitischen Kurs.
Wiesbaden - Rekorde, Rekorde! - Das Statistische Bundesamt vermeldet die Ergebnisse des deutschen Außenhandels im März.
FREITAG
Brüssel - Rating auf Raten - Die Rating-Agentur Standard & Poor's legt ihre Berichte für Spanien und Frankreich vor.
Peking - Export von Deflation? - Chinas Statistikamt gibt die Inflationsrate für März bekannt.
SONNTAG
Hannover - Deutsche Leistungen - Die Hannover-Messe startet. Partnerland ist dieses Jahr Indien, weshalb Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Indiens Ministerpräsident Modi die Industrie-Show eröffnet.