Soziale Gerechtigkeit "Das ganze System schlechtzureden, ist unverantwortlich"

Ist die soziale Marktwirtschaft in Deutschland am Ende? Keinesfalls, sagt Wirtschaftsforscher Michael Hüther: Weder nehme die Ungleichheit zu - noch ließen sich soziale Probleme allein mit Geld lösen.
Reinigungskräfte in der Glaskuppel des Reichstages

Reinigungskräfte in der Glaskuppel des Reichstages

Foto: Kay Nietfeld/ picture alliance / dpa

Deutschland debattiert über soziale Gerechtigkeit - und das so intensiv wie schon lange nicht mehr. Den jüngsten Impuls dazu hat Marcel Fratzscher gegeben, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Deutschland habe sich zu einem der ungleichsten Länder der industrialisierten Welt entwickelt, in dem 40 Prozent der Bevölkerung de facto nichts besitzen. In kaum einem anderen entwickelten Land blieben Arme so häufig arm und Reiche so häufig reich.

Entschiedener Widerspruch kommt von Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, das von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden finanziert wird. Der Ökonom und Historiker hält die These vom ungerechten Deutschland für falsch und gefährlich - weil sie die Bürger grundlegend verunsichere: "Selbstverständlich gibt es Probleme, die auch spezifisch angegangen werden müssen. Aber das ganze System schlecht zu reden, ist unverantwortlich."

SPIEGEL ONLINE: Herr Hüther, "die soziale Marktwirtschaft existiert nicht mehr". Das sagt nicht die Linke, sondern der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Teilen Sie den Befund?

Hüther: Ich widerspreche entschieden. Die Debatte wäre vor einem Jahrzehnt berechtigt gewesen. 2005, als die Agenda-Reformen umgesetzt wurden, blickten wir zurück auf eine Phase, in der der Niedriglohnsektor wuchs, die Mittelschicht schwächer und die Einkommen ungleicher wurden. Seitdem aber sind all diese Indikatoren stabil - und wir haben eine enorme Zunahme an Beschäftigung. Das passt nicht zu solch einem alarmistischen Befund.

SPIEGEL ONLINE: Es stimmt, Deutschland ist zum Wirtschaftsmotor Europas geworden. Und wir sollen nun zufrieden sein, dass die Ungleichheit nur nicht noch schlimmer geworden ist?

Hüther: Nein, aber: Wir dürfen die große Weltfinanzkrise von 2009 nicht vergessen, die auch unsere Industrie voll getroffen hat - was sich aber bei Beschäftigung und Einkommensungleichheit kaum negativ ausgewirkt hat. Abgesehen davon gibt es konkrete Gründe für die Stagnation: Zum ersten Mal seit 1975 haben wir die Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut. Es sind also Menschen in den Arbeitsmarkt gekommen, die lange nicht dabei waren - oft zunächst in prekäre, befristete, niedrig bezahlte Jobs. Wer so einsteigt, hat natürlich einen schwierigen Weg nach oben, zumal die Ansprüche an Qualifikation gerade in der Industrie gestiegen sind.

SPIEGEL ONLINE: Das DIW hat kürzlich festgestellt, dass die Mittelschicht seit 1983 von 69 auf 61 Prozent geschrumpft ist. Müssen wir das einfach so hinnehmen?

Hüther: Es sieht so aus. Aber es ist unhaltbar, wenn hier so getan wird, als gäbe es eine stetige Entwicklung seit 1983. So war es nicht. Es gab zwei historische Brüche: Erstens die Wiedervereinigung 1990. Darauf folgte bis Mitte der Neunzigerjahre ein enormer Beschäftigungs- und Produktionsverlust in den neuen Bundesländern und danach ein mühsamer, langsamer Aufbau - in diese Zeit fällt ja die Zunahme der Ungleichheit. Der zweite Bruch war das Jahr 2005 mit der Agenda 2010, seitdem wächst - allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz - die Ungleichheit nicht mehr. Wir sind eben nicht in einem durchgängigen, unaufhaltsamen Abwärtstrend, wie die DIW-Studie suggeriert.

Zur Person
Foto: IW Köln

Michael Hüther ist seit 2004 Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Mittleren und Neueren Geschichte war er zunächst Leiter des wissenschaftlichen Stabes beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ("Fünf Weise") und Chefvolkswirt der DekaBank.

SPIEGEL ONLINE: Aber unterhalb der Mittelschicht verfestigt sich die Armut. Welche Messmethode man auch anwendet: Stets sind mehr als zehn Prozent arm oder armutsgefährdet. Inzwischen lebt jedes siebte Kind von Hartz IV. Dabei wird in Deutschland sehr viel umverteilt, es kommt nur nicht unten an.

Hüther: Wenn es um den Ausbruch aus einer unteren Schicht geht, bringt es nichts, einfach Geld umzuverteilen. Wir müssen die spezifischen Probleme identifizieren und lösen. Ein Beispiel: Bildungsarmut führt zu Einkommensarmut. Was führt aber zu Bildungsarmut? Oft prekäre Verhältnisse im Elternhaus, das den Kindern nicht die Kompetenzen für erfolgreiche Bildung vermitteln kann.

SPIEGEL ONLINE: Was ist die Lösung?

Hüther: Eine intensive und individuelle Betreuung, und zwar eigentlich schon vor der Geburt. Wie bei den Babylotsen, die bereits in der Geburtsklinik eine frühe Brücke in die Kinder- und Jugendhilfe bauen. Alle Maßnahmen im frühkindlichen Bereich sind wichtig - auch die Prüfung der Deutschkenntnisse zum vierten Geburtstag und die Qualität der Kindergärten allgemein. Die Kommunen brauchen dafür tatsächlich sehr viel mehr Geld als bisher.

SPIEGEL ONLINE: Auch Sie plädieren also für höhere Investition in Bildung, vor allem frühkindliche. Wem nehmen wir dafür etwas weg?

Hüther: Erstens tun wir so, als hätte der Staat kein Geld, dabei sind die Steuereinnahmen sehr hoch. Hieraus kann man diese berechtigte Ausgabensteigerung zum Teil finanzieren. Der andere Teil sollte - zweitens - aus dem Bildungssystem selbst kommen: Wir fordern hohe Kita-Beiträge, verzichten aber auf Studiengebühren. Das ist ungerecht, kritisiert auch die Industrieländerorganisation OECD. Mit Studiengebühren könnten wir auf Anhieb zwei Milliarden Euro einnehmen, die Hälfte davon kann durch Umschichtungen in frühkindliche Bildung fließen.

SPIEGEL ONLINE: Allerdings werden sich die ersten Effekte erst in 20 Jahren bemerkbar machen. Das hilft den Millionen Menschen mit geringem Einkommen nicht, deren Altersarmut programmiert ist. Sollten nicht - wie in den Niederlanden - Geringverdiener einen höheren Anteil ihres letzten Einkommens als Rente bekommen, Gutverdiener dafür einen niedrigeren?

Hüther: Das wäre ein Bruch mit dem bewährten Äquivalenzprinzip: Die Auszahlung richtet sich nach der Einzahlung. Für einen Systemwechsel zur steuerfinanzierten Grundrente - um die geht es dann nämlich - sehe ich keinen Bedarf. In der Gesamtbevölkerung beziehen rund neun Prozent Hartz IV, bei den über 65-Jährigen sind nur drei Prozent in Grundsicherung.

SPIEGEL ONLINE: Dieser Anteil wird aber stark steigen - selbst bei Riester-Sparern, weil ihre mühsam abgesparte private Vorsorge voll auf die Rente angerechnet wird. Abgesehen davon, dass die Hälfte der Arbeitnehmer seit Jahren kein reales Lohnplus mehr hat. Ihre Haltung dazu ist: Pecht gehabt?

Hüther: Erstens: Wer so, wie diese Regierung das höhere Rentenalter zurücknimmt, der schwächt die Rentenzuwächse. Zweitens: Um die Dimension deutlich zu machen: Bis 2030 wird der Anteil der Senioren in Grundsicherung auf maximal fünf Prozent steigen - wenn sich der Arbeitsmarkt bis dahin unerwartet schlecht entwickelt. Aber auch ich fordere, dass die Riester-Rente nicht voll auf die Grundsicherung angerechnet wird. Die Riester-Rente ist an sich ein gutes Instrument, ebenso wie die betriebliche Altersvorsorge. Ein Problem werden aber diese beiden Säulen zusätzlich zur gesetzlichen Rente nicht lösen können: Wer Teilzeit arbeitet, bekommt eben keine Vollzeitrente. Wir werden ohne Grundsicherung nicht auskommen, und wir sollten sie auch nicht schlechtreden. Sie ist eine deutliche Verbesserung für einkommensschwache Rentner im Vergleich zur Zeit vor den Agenda-Reformen.

SPIEGEL ONLINE: Und dennoch kommen viele mit Grundsicherung im Alter kaum über die Runden. Wie kann man ihnen helfen?

Hüther: Indem wir zum Beispiel den Wohnungsbau ankurbeln, neue Flächen ausweisen und übertriebene Umweltstandards für Neubauten senken. Denn fragen Sie die Sozialverbände: Am häufigsten leiden einkommensschwache Senioren unter hohen Mieten.

SPIEGEL ONLINE: So bleiben wir aber vom Ziel einer sozial homogeneren Gesellschaft wie in den Achtzigern weit entfernt.

Hüther: Sollte das überhaupt unser Ziel sein? Ungleichheit ist für eine Marktwirtschaft unabdingbar, es kommt auf das richtige Maß an. In den USA bekommen die oberen zehn Prozent 5,1-mal höhere Löhne als die unteren zehn Prozent - in Deutschland ist das Verhältnis 3,4. Wir stehen besser da als der Schnitt der OECD-Staaten. Und die Menschen empfinden das auch so: Noch nie seit der Wiedervereinigung waren die Sorgen um die eigene wie die allgemeine wirtschaftliche Lage so niedrig wie heute.

Die Armutsreportage: Was heißt denn arm?

Ein Rentner in München kann sich keinen Besuch mehr im Biergarten leisten. Eine Familie mit vier Kindern fürchtet den sozialen Abstieg. Eine Frau aus Aachen gilt als arm, sieht sich aber nicht so. Armut in Deutschland hat viele Facetten. Unsere Reporter Florian Diekmann und Britta Kollenbroich haben Armut in Deutschland untersucht.

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