
Vor der Wahl Im Land der Widersprüche


Skyline in Frankfurt am Main
Foto: Allan Baxter / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
In diesem Beitrag lesen Sie, welche wirtschaftspolitische Agenda die nächste Bundesregierung verfolgen sollte – wo Deutschland besonders gravierend im Rückstand ist und wo wir führend sind. Einige Punkte werden Sie vielleicht überraschen, andere nicht. Manches wird Sie womöglich ärgern. Das ist okay.
Mir geht es darum, ein paar faktenbasierte Pfeiler in die Diskussion einzuschlagen. Im aufgeheizten Wahlkampf-Endspurt vor der Ziellinie am kommenden Sonntag fluktuieren die Themen und Meinungen wild durcheinander. Die Bilder, die die Parteien vom Zustand Deutschlands zeichnen, unterscheiden sich manchmal so gravierend, dass man sich gelegentlich fragt, ob sie tatsächlich über dasselbe Land reden.
Dieser Text ist dreigeteilt:
Der erste Teil beschäftigt sich mit der Frage, welche ökonomischen Ziele die Politik eigentlich verfolgen sollte.
Der zweite vergleicht Deutschlands Leistungen mit den Ländern, die in der jeweiligen Disziplin führend sind.
Schließlich schauen wir, wie gut die politischen Möglichkeiten zu den ökonomischen Erfordernissen passen: Taugen mögliche Koalitionen, um die nationale Problemlage zu bearbeiten? Eines vorweg: Die Schlussfolgerungen sind – halbwegs – ermutigend.
Vier Ziele – viele Widersprüche
Wirtschaftspolitik beschäftigt sich nicht nur mit Geld, Schulden oder Arbeitsmärkten. Etwas grundsätzlicher betrachtet, sollten vier zentrale Zielkategorien im Fokus stehen: Effizienz, Stabilität, Nachhaltigkeit und Fairness.
Das heißt: Eine freiheitliche Gesellschaft sollte möglichst alle Kapazitäten ausschöpfen, also nichts verschwenden. Und sie sollte diese Kapazitäten möglichst so einsetzen, dass Fortschritt und steigende Wohlstandsniveaus möglich sind. Sie sollte dabei keine gravierenden Ungleichgewichte aufbauen, zum Beispiel hohe staatliche und private Verschuldung sowie Kapitalmarktblasen und tiefe Rezessionen und übersprudelnde Aufschwünge, Deflation und Inflation gleichermaßen vermeiden. Sie sollte möglichst wenige natürliche Ressourcen verbrauchen und die Lebensgrundlagen künftiger Generationen schonen. Und sie sollte krasse Unterschiede bei der Verteilung von Wohlstand so weit einebnen, dass alle Bürger möglichst ähnliche Möglichkeiten haben, sich persönlich zu entfalten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Die ESSF-Formel (Efficiency, Stability, Sustainability, Fairness) umreißt grob einen erweiterten Wohlstandsbegriff, wie er sich seit der Finanzkrise herausgebildet hat und längst angewandt wird. Das ist etwa in den Länderanalysen internationaler Organisationen wie der OECD und des Internationalen Währungsfonds der Fall, teils auch im Rahmen der wirtschaftspolitischen Überwachungsverfahren der Europäischen Union.
Auf sehr lange Sicht mögen alle vier Ziele harmonisch vereinbar sein. Kurz- bis mittelfristig gibt es eine Menge Zielkonflikte. Würde beispielsweise eine Regierung Wirtschaftswachstum um jeden Preis anstreben, blieben Stabilität und Nachhaltigkeit auf der Strecke, vermutlich auch die Fairness. Würde sie hingegen Nachhaltigkeit zur alleinigen Maxime erheben, würden die anderen drei Ziele verfehlt, weil viele wirtschaftliche Aktivitäten obsolet würden und Jobs verloren gingen.
Es geht deshalb um schwierige Abwägungen – um Kompromisse zwischen widerstreitenden Zielen. In einer freien Gesellschaft findet die Auseinandersetzung darüber öffentlich statt, wir erleben es gerade im Wahlkampf.
Umso interessanter ist die Frage, wo wir derzeit stehen. Wie gut sind wir verglichen mit anderen Ländern? Wo ist der größte Handlungsbedarf für die nächste Regierung?
Wir sind Stabilitätsmeister
In der wirtschaftspolitischen Debatte schauen wir bevorzugt auf Länder, in denen es schlechter läuft als bei uns, zumal auf die Euro-Südstaaten. Das ist billig. Wenn man besser werden will, sollte man sich mit denjenigen vergleichen, die in der jeweiligen Kategorie schon besser sind. Für eine Analyse im manager magazin habe ich kürzlich anderthalb Dutzend Indikatoren zusammengetragen, die die ESSF-Formel konkretisieren und einen Vergleich zulassen. Hier sind ein paar Kernergebnisse.
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28.03.2023 02.27 Uhr
Keine Gewähr
Zuerst das Positive: In Sachen Stabilität ist die Bundesrepublik führend. Die Verschuldung der Unternehmen ist so niedrig wie nirgends sonst in vergleichbaren Ländern. Bei der Staatsverschuldung schneiden einige kleinere westliche Ländern zwar noch besser ab – Best-Performer Schweiz hat eine um 20 Prozentpunkte niedrigere Schuldenquote –, aber unter den G7-Ländern ist keines so gering verschuldet wie die Bundesrepublik.
Dazu kommt der absolut größte außenwirtschaftliche Überschuss der Welt. Insgesamt verfügt Deutschland damit über beachtliche finanzielle Airbags, die Verwerfungen abfedern können, etwa wenn irgendwann die hiesige Immobilienblase mit lautem Knall platzt.
Wir sind Stabilitätsmeister – auch wenn man darüber diskutieren kann, ob eine geringe Verschuldung in Zeiten extrem niedriger Zinsen sinnvoll ist und ob der großvolumige Kapitalexport ins Ausland (die Kehrseite hoher außenwirtschaftlicher Überschüsse) nicht Wohlstand bei uns kostet. Aber das sind Fragen der Effizienz, und in dieser Kategorie fällt das Urteil schon differenzierter aus.
Hohes Niveau, schwache Dynamik
Wenn man Effizienz so versteht, dass die vorhandenen Kapazitäten einer Gesellschaft genutzt sein sollten, steht die Bundesrepublik gut da. Die Beschäftigungsquote liegt bei über 75 Prozent. Am besten schneidet in dieser Disziplin wiederum die Schweiz ab, mit einer Quote von 80 Prozent, aber Deutschland liegt eindeutig in der Spitzengruppe. Das deutet darauf hin, dass der Arbeitsmarkt und die sozialpolitischen Anreizsysteme ordentlich funktionieren.
Noch besser: Das hohe Beschäftigungsniveau geht einher mit hoher Produktivität. Pro Arbeitsstunde erwirtschaften hiesige Werktätige umgerechnet mehr als 66 US-Dollar pro Stunde. Ein beachtlicher Wert, auch wenn das beste Land in dieser Kategorie (Dänemark) 75 Dollar erreicht.
Die Bundesrepublik, so muss man es sehen, hat ein hohes Effizienzniveau erreicht. Woran es hapert, ist die Dynamik. Deutschland ist eine eher statische Veranstaltung. Wachstum, Fortschritt, Innovation – da sind wir nur mittelprächtig.
Ein paar Vergleichswerte: Das Wirtschaftswachstum lag in den Jahren 2010 bis 2019 im Schnitt bei 1,5 Prozent; der Klassenbeste in dieser Disziplin (USA) erreichte 2,3 Prozent. Die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote ist rund vier Prozentpunkte niedriger als beim Best-Performer (Schweiz), wobei der Anteil, der in die Schaffung geistigen Eigentums fließt, in Deutschland nur halb so hoch ist.
Die Ausstattung mit Risikokapital relativ zur Wirtschaftsleistung beträgt nur ein Zehntel des besten vergleichbaren Landes (USA). Die digitale Infrastruktur ist, nun ja… Vier Prozent des deutschen Netzes sind mit Glasfaserleitungen ausgestattet, im besten Land (Südkorea) sind es mehr als 80 Prozent. Entsprechend läuft dort die Datenübertragung im Schnitt doppelt so schnell wie bei uns.
Ein Zwischenfazit: Wir sind gut darin, unsere bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen. Aber wenn es darum geht, neues Wissen in neue Produkte, Verfahren und Unternehmen zu übersetzen, sind die Leistungen nicht berauschend, um es zurückhaltend zu formulieren.
Fairness? Nachhaltigkeit?
Beim Thema Fairness steht Deutschland besser da. Das Steuer- und Sozialsystem gleicht Einkommensunterschiede ziemlich effektiv aus. Der Gini-Koeffizient, ein statistisches Gleichheitsmaß, liegt für die Nettoeinkommen bei 0,29. Das ist nicht weit entfernt vom Land mit dem besten Wert (Belgien). Die Armutsquote ist in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gestiegen: Nach den OECD-Vergleichsstatistiken lag sie zuletzt bei knapp zehn Prozent, international gesehen ein mittlerer Wert. Im bestplatzierten Dänemark beträgt sie nur sechs Prozent, was zeigt, dass da noch mehr geht.
Beim Ziel der Nachhaltigkeit genügt ein einziger Indikator, um zu illustrieren, wie weit Deutschland hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückbleibt: Der Ausstoß an Treibhausgasen pro Kopf der Bevölkerung ist etwa doppelt so hoch wie in Schweden, dem besten vergleichbaren Land in dieser Kategorie. Nach zwei Jahrzehnten »Energiewende«, die nach Kalkulationen des Bundesrechnungshofs bislang schon rund eine halbe Billion Euro allein in der Stromerzeugung gekostet hat, verfehlt die Bundesrepublik das Ziel der Nachhaltigkeit bei Weitem. Das ist nebenbei bemerkt auch eine eklatante Verfehlung des Effizienzziels.
Was man jetzt von Grünen und FDP erwarten muss
Aus dem Besten-Vergleich ergibt sich ein klares Bild: Deutschland hat erheblichen Nachholbedarf in Sachen dynamischer Effizienz und Nachhaltigkeit, während wir beim Ziel der Fairness befriedigend dastehen und in puncto Stabilität womöglich sogar übertreiben. Die nächste Bundesregierung sollte die ESSF-Formel entsprechend neu austarieren. Kann das gelingen?
Der nächsten Berliner Koalition werden, aller Wahrscheinlichkeit nach, erstmals auf Bundesebene gemeinsam Grüne und FDP angehören – also gerade jene Parteien, die sich Nachhaltigkeit beziehungsweise Innovation auf die Fahnen geschrieben haben. Darin liegt eine Chance. Käme es zwischen beiden zu einer produktiven Arbeitsteilung, könnten sie gemeinsam einiges voranbringen.
Während in der Endphase des Wahlkampfs derzeit noch lautstark Unterschiede betont werden, illustriert eine statistische Analyse der Wahlprogramme , die wir soeben im Rahmen unseres Forschungsverbunds DoCMA veröffentlicht haben, dass sich Grüne und FDP inhaltlich so nahe sind wie nie zuvor in den vergangenen 30 Jahren. Auch in den potenziellen Dreierkonstellationen »Ampel« (plus SPD) und »Jamaika« (plus Union) erreichen sie bislang nicht gemessene Übereinstimmungswerte. Schauen wir mal, ob sich die statistischen Analysen tatsächlich in Politik übersetzen lassen.
Die wichtigsten Termine der bevorstehenden Woche
Frankfurt – Die 40 Fragezeichen – Der deutsche Börsenindex Dax startet erstmals mit 40 Konzernen.
Ottawa – Neuwahlen – Die Kanadier wählen ein neues Parlament. Premier Trudeau versucht sich seine Mehrheit zurückzuholen.
Moskau – Frustrierendes Non-Event – Nach der umstrittenen Parlamentswahl in Russland sollen nun Ergebnisse vorliegen.