Eckpunkte zum Einwanderungsgesetz Noch verdammt viel Arbeit

Chinesische Altenpflegerin, Bewohnerin eines Pflegeheims in Stuttgart
Foto: Marijan Murat/ picture alliance / dpaVor vier Monaten hat Detlef Scheele eine Vorhersage gewagt. Es ging um das Einwanderungsgesetz. Er vermute, dass "dieses Gesetz das letzte sein wird, das in dieser Legislaturperiode beschlossen wird", sagte der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) damals dem "Handelsblatt". Also erst im Jahr 2021. Grund: Es gebe einfach zu viele offene Fragen zwischen den Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgebern.
Was die pessimistischen Zeitplanung angeht, hat BA-Chef Scheele sich geirrt. Noch in diesem Jahr will das Kabinett das Gesetz beschließen. Das liegt am Asylstreit in der Union, den die SPD nur unter der Bedingung erduldete, dass beim Einwanderungsgesetz mächtig Tempo gemacht wird.
Im Kern aber bleibt die Aussage Scheeles zutreffend: Bis das Einwanderungsgesetz für Fachkräfte wirklich funktioniert, hat die Bundesregierung noch viel Arbeit zu erledigen. Das wird an dem seit Donnerstag kursierenden Eckpunktepapier deutlich, das aus dem vom CSU-Politiker Horst Seehofer geleiteten Innenministerium stammt, aber mit dem SPD-geführten Arbeits- und dem CDU-geführten Wirtschaftsministerium erstellt wurde. Man befinde sich "noch in der Abstimmung", es könne sich noch einiges ändern, heißt es unisono aus den Ministerien. Auf deutsch: Das Ganze wird dauern.
400.000 Zuwanderer aus Nicht-EU-Ländern - im Jahr
Das Ziel steht seit vielen Jahren fest: Deutschland braucht weit mehr Zuwanderung von Fachkräften als bislang. Gründe sind der jahrelange Boom auf dem Arbeitsmarkt, und die Demografie. Mit voller Wucht wird das von Mitte des nächsten Jahrzehnts an spürbar werden. Dann hören die Babyboomer auf zu arbeiten - und wollen die Rente beziehen, für die sie Jahrzehnte eingezahlt haben.
Experten des BA-eigenen Forschungsinstituts IAB und der Universität Konstanz haben vor drei Jahren berechnet : Selbst wenn Deutschland das eigene Potenzial ausnutzt - also Arbeitslose weiterbildet oder die Erwerbsbeteiligung von Frauen steigert - und weiterhin Arbeitskräfte aus der Europäischen Union anzieht, müssten viele Fachkräfte von außerhalb der EU einwandern. Die Forscher haben schon eingerechnet, dass Fachkräfte mit ihren Partnern und Kinder kommen und kamen für die Zeit bis 2050 im Schnitt je nach Szenario auf 276.000 bis 491.000 notwendige Einwanderer pro Jahr. Das IAB und BA-Chef Scheele sprachen zuletzt stets von einen jährlichen Zuwanderungsbedarf von 400.000 Menschen aus Ländern außerhalb der EU.
Wie die Große Koalition das erreichen will, wird in den Eckpunkten im Ansatz deutlich:
- Grundsätzlich sollen alle beruflich Qualifizierten einwandern dürfen - wenn ihnen ein passender Arbeitsplatz angeboten wird und sie ausreichend Deutsch sprechen. Bislang galt das nur für Akademiker oder Fachkräfte in sogenannten Mangelberufen wie der Pflege.
- Die Vorrangprüfung soll wegfallen. Bisher darf eine Fachkraft aus einem Nicht-EU-Staat nur dann einwandern, wenn sich kein Bewerber aus Deutschland oder der EU dafür findet - in der Praxis ist das eine gewaltige Hürde.
- Beruflich Qualifizierte dürfen auch dann einwandern, wenn sie keinen konkreten Arbeitsplatz vorweisen können - allerdings nur befristet und um einen Job zu finden. Sie müssen ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, Sozialleistungen erhalten sie nicht. Dafür dürfen sie vorübergehend einen Job unterhalb ihrer Qualifikation annehmen.
- Auch die Zuwanderung in Ausbildungsplätze soll erleichtert werden.
- Eine "Clearingstelle Anerkennung" soll helfen, die oft schwierige Frage zu beantworten, wer eigentlich als "beruflich qualifiziert" gilt - wer also Fachkraft ist und wer nicht. Kaum ein Bewerber aus dem Ausland kann schließlich etwa einen der Hunderten Abschlüsse der deutschen dualen Berufsausbildung vorweisen. Bislang gleicht dieses Anerkennungsverfahren einem Dickicht aus regionalen und institutionellen Zuständigkeiten mit uneinheitlichen Kriterien.
- Fachkräften soll der Zuzug nicht nur erlaubt werden - sie sollen aktiv umworben und rekrutiert werden. Dazu gehören Werbekampagnen in ausgewählten Ländern.
- Weil Deutschkenntnisse für die Zuwanderung vorgeschrieben sind, soll es mehr und gezieltere Sprachkurse im Ausland geben.
- Zudem sollen Unternehmen unterstützt werden, Fachkräfte im Ausland auszubilden, die anschließend nach Deutschland einwandern können.
- Die bislang extrem komplexe Bürokratie soll vereinfacht und die Kommunikation zwischen den vielen beteiligten Behörden und Institutionen verbessert werden.
Bei näherer Betrachtung lassen diese Eckpunkte jedoch etliche Fragen offen oder unklar. Selbst in Grundsatzfragen wirkt es mitunter unentschieden. Nur zwei Beispiele:
Einerseits betont das Papier im Einleitungstext den "Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzangebotes" als Kriterium für die Zuwanderung. Der erste ausformulierte Eckpunkt beginnt zudem mit der Bedingung: "Wenn ein Arbeitsplatz und eine anerkannte Qualifikation vorliegen..." Bis zu dieser Stelle erweckt das Papier den Eindruck, Zuwanderung solle nur bei einer festen Jobzusage ermöglicht werden - wie es auch BA-Chef Scheele fordert.
Im zweiten ausformulierten Eckpunkt ist dann jedoch die Möglichkeit vorgesehen, auch ohne zugesicherten Arbeitsplatz für eine bestimmte Zeit ins Land zu dürfen, um sich einen Job zu suchen - eine Option, die Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vor einigen Wochen ins Spiel brachte und die auf dessen Druck hin aufgenommen worden sein dürfte.
Dieses Sowohl-als-auch betrifft die zweite Grundsatzfrage: die, ob ein Punktesystem eingeführt werden soll, wie es die SPD bislang favorisiert. In einem solchen Punktesystem wären einzelne Punkte wie Qualifikation, Deutschkenntnisse oder Lebensalter nicht jeweils ein Ausschlusskriterium. Stattdessen würden sie bewertet und fließen in eine Gesamtbewertung ein - liegt diese über einem bestimmten Wert, ist Zuwanderung möglich, ansonsten nicht.
Der Begriff Punktesystem findet sich in dem Eckpunktepapier nicht, wird aber auch nicht ausgeschlossen. De facto legt aber die Möglichkeit, ohne konkreten Job einwandern zu können, ein solches System nahe. Denn irgendwie muss ja entschieden werden, wer qualifiziert oder jung genug ist und gut genug Deutsch spricht, um es auf dem deutschen Arbeitsmarkt versuchen zu dürfen.
Klärungsbedarf mit Gewerkschaften und Arbeitgebern
Das erfordert Abwägungen: Soll ein erfahrener Installateur wirklich nicht kommen können, nur weil er schlecht Deutsch spricht? Oder umgekehrt: Sollte eine 19-Jährige, die fließend Deutsch spricht, aber keine Berufsqualifikation besitzt, nicht einen der unbesetzten Ausbildungsplätze erhalten? Es ist gut vorstellbar, dass zur Beantwortung dieser Fragen ein System eingeführt wird, das die verschiedenen Kriterien gewichtet - ein Punktesystem.
Die Regierungspartner haben also noch einigen Klärungsbedarf. Und gleichzeitig gibt es zahlreiche strittige Punkte, in denen sie sich nicht nur untereinander einigen müssen - sondern auch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern.
Der DGB etwa hat bereits klargestellt, dass die Gewerkschaften nichts von einer generellen Zuwanderung von Fachkräften halten . Sie pochen darauf, dass Fachkräfte nur "in einzelnen Branchen" mit besonderem Bedarf zuwandern sollen - und fordern ein Mitspracherecht bei der Frage, in welchen Branchen dieser Bedarf besteht.
Ganz allgemein wehrt sich der DGB gegen den Wegfall der Vorrangprüfung "insbesondere bei Helferberufen". Das ist gleichbedeutend mit einer Absage gegen den Kern des geplanten Gesetzes, da gerade die Bevorzugung einheimischer Bewerber bislang das größte Hindernis für qualifizierte Zuwanderung darstellt.
Praktische Fragen
Zudem wird das Handwerk mit aller Macht verhindern wollen, dass das Qualifikationsniveau in einzelnen Berufen verwässert wird, um Zuwanderung zu ermöglichen.
Wenn solche unklaren oder strittigen Punkte geklärt sind, warten praktische Fragen. Welches Sprachniveau braucht es für welchen Beruf? Wie genau kann ein Bewerber bereits im Ausland gesichert feststellen lassen, ob seine Qualifikation in Deutschland anerkannt wird?
Wie schwierig das im Detail werden könnte, macht das Eckpunktepapier am Ende deutlich. Das Verfahren in der Verwaltung solle effizienter und transparenter werden, steht dort - und dann werden die Behörden aufgezählt, die verzahnt werden müssen: Visastellen, Ausländerbehörden, Arbeitsverwaltung, Stellen für die Anerkennung beruflicher Qualifikation und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ein langer Weg.