Ende der Solidarität Die Angst der Mitte vor Hartz 5

Plakat des Sozialverbands VdK: Politik nach Kassenlage?
Foto: dapdFür Sozialverbände und Wohlfahrtsorganisationen ist es ein Aufregerthema. Sie kritisieren die geplanten Mini-Erhöhungen bei Hartz IV als "Sozialpolitik nach Kassenlage". Fünf Euro mehr im Regelsatz für Erwachsene, kein Plus bei den Kindern - das sei ein Skandal, sagen die Verbände.
Doch zugleich gewinnt man den Eindruck, dass in der gesellschaftlichen Mitte die Entrüstungswellen ausbleiben, mehr noch: dass man hier Aufstockungen der Hartz-IV-Regelsätze gar nicht akzeptiert. Schon der frühere Kanzler Schröder hatte dies stets im Auge, wenn er seine Genossen vor weiteren Zuschlägen warnte; diese müssten letztlich durch Abgaben der arbeitnehmerischen Mitte bezahlt werden.
Und in der Tat stellt sich erneut die zentrale Zukunftsfrage, ob Mitte und Mehrheit in den modernen Demokratien des 21. Jahrhunderts zur Solidarität und Sozialstaatlichkeit fähig und willens sind. Nicht wenige Beobachter äußern beträchtliche Skepsis. Und viele verbinden das mit einem düsteren Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte. Angesichts des Anstiegs von Ungleichheit und Ungerechtigkeit gäbe es in den nächsten Jahrzehnten unzweifelhaft einen wachsenden Bedarf an Solidarität. Aber während die Nachfrage nach Solidarität zugenommen habe, seien die tragenden Bedingungen solidarischer Zusammenschlüsse und Aktionen zuletzt erheblich erodiert - abgeschmolzen "wie Gletscher in den Zeiten globaler Erwärmung", so der Politologe Herfried Münkler von der Berliner Humboldt-Universität.
Solidarität braucht Nähe
Denn schließlich: Solidarität ist enorm voraussetzungsreich. Sie ist die Moral von Gruppen mit ähnlichen Interessen, oft einer gemeinsam erlebten Geschichte. Solidarität braucht Nähe. Daher ist Solidarität als universalistische Norm kaum zu realisieren. Altruistische Motive reichen nicht. Hinzu kommen müssen gemeinsame soziale Interessen, auch der Druck von außen, durch den die einzelnen Individuen erst zusammengefügt werden. Nichts davon vollzieht sich automatisch, gleichsam als Reaktion auf den stummen Zwang von Verhältnissen. Aus einem objektiven Sein wird ein wünschenswertes Sollen erst durch Orientierungs- und Interpretationskonzepte.
Jedenfalls: Mitte und Mehrheit, die Arbeitnehmerschaft in sich und als Ganzes sind keineswegs per se solidarisch. Dazu hat gerade die tiefe soziale Spaltung der Arbeitnehmerschaft seit den siebziger Jahren in In- und Outsider am Arbeitsmarkt beigetragen. Diese Trennung hat die Grundlagen von Solidarität und Sozialstaatlichkeit erheblich belastet.
Solidarität im Wohlfahrtsstaat beruht also auf Wechselseitigkeit: Die Etablierten gaben den bedrängten anderen, wenn sie erwarten durften, später in einer kritischen Situation vergleichbare Hilfe zurückzuerhalten. Solidarität bedeutet nicht Mildtätigkeit, sondern eine Unterstützungs- und Austauschbeziehung von im Grunde gleichstarken Gruppen beziehungsweise Individuen. Nur deshalb lässt sich Solidarität organisatorisch verstetigen, in wohlfahrtsstaatliche Systeme institutionalisieren.
"Den Leuten gehen die Messer in den Taschen auf"
Bis in die siebziger Jahre funktionierte die Industriegesellschaft so, dass auch Solidarität gelingen konnte. Seither aber hat sich in den Brachen der überkommenen industriellen Räume eine Schicht von "Überflüssigen", "Entbehrlichen" und "Verlorenen" entwickelt und sodann verfestigt, die nicht zurückgeben können, was ihnen über den Sozialstaat, also über die Abgaben und Steuerzahlungen insbesondere der Mittelklassen, zugeleitet wird. Das aber stellt das Grundgesetz der Solidarität in Frage. "Den Leuten gehen die Messer in den Taschen auf", so Soziologe Heinz Bude, "wenn jemand Geld oder Ehre einsteckt, ohne etwas dafür getan zu haben."

Es ist nicht lange her, da waren Vorwürfe gegen "arbeitsscheues Gesindel" wohlfeil, die dem Steuerzahler auf der Tasche lägen. Allerdings ist man mit solchen Vorwürfen seit der Finanzkrise vorsichtiger geworden, weshalb auch Guido Westerwelles Attacken im Februar gegen die angebliche "spätrömische Dekadenz" in Deutschland nicht die beabsichtigte Resonanz fanden.
Der Grund: In der gesellschaftlichen Mitte wächst die Sorge, dass die eigenen Kinder beruflich scheitern, in der Folge sozial abstürzen - und sodann ebenfalls in die Abhängigkeit von sozialen Transfers geraten könnten. Eben das allerdings gilt als der GAU für die nach oben orientierte Mitte, für die ein Scheitern auf dem Gymnasium oder an der Hochschule die höchste Blamage ist, welche man dem eigenen Umfeld tunlichst verschweigen sollte. Infolgedessen schwadroniert die Mitte nun nicht mehr ungehemmt über "Sozialschmarotzer", da man unterschwellig spürt, dass das einst so ferne Stigma einer Flut gleich kommt - und die Dämme nicht mehr halten.
Die Aggressionen gegen Randgruppen haben zugenommen
Mitte-Menschen also fürchten um den Erhalt dessen, was seit jeher im Mittelpunkt ihres Lebens- und Aufstiegsplans stand. So nehmen in der Mitte auch wirtschaftsprotektionistische Neigungen zu; man erwartet vom Staat den Schutz des nationalen Arbeitsmarkts. Auch Mindestlöhne, ein frühes Renteneineintrittsalter, eine Bürgerversicherung für den Gesundheitssektor finden in der Mitte mehrheitlich Zuspruch. Die Ergebnisse der Sozialforschung belegen das unzweifelhaft.
Doch deswegen ist die gesellschaftliche Mitte nicht unmittelbar "solidarisch" oder gar "links". Die Mindeststandards bilden lediglich das potentielle Auffangnetz für die Mitte beim befürchteten Fall aus dem Wohlstandsleben. Aber zugleich sind die Aggressionen in der Mitte gegen "fremdartige" Randgruppen gestiegen. Für kostenträchtige Integrationsprojekte zugunsten von Migranten wird man in der Mitte auch nicht mehr allzu viel Applaus ernten oder gar Finanzierungsbereitschaft finden. Die mentale Distanz zu Ausländern etwa ist gerade im Zentrum der Gesellschaft signifikant gewachsen. Die Sarrazin-Thesen fanden hier große Zustimmung.
Bezeichnend ist sicher auch, dass sich die soziale Mitte bildungs- und schulpolitisch keineswegs für das Modell erweiterter Chancen auch für Kinder des "sozialen Unten" ins Zeug legt. Dabei zählen viele Mittezugehörige selbst zu Gewinnern der ersten Bildungsreform in den sechziger und siebziger Jahren. Doch gerade weil sie seinerzeit den Aufstieg von unten in die Mitte geschafft haben, gerade darum besitzen sie nun - ganz wie schon in früheren Jahrzehnten die etablierten Mittel- und Oberschichten - kein Interesse an weiteren Emanzipationsschüben von unten, da das für sie zusätzliche Konkurrenz, auch die Entwertung der eigenen, mühselig erworbenen Bildungsabschlüsse und Statusposition bedeuten würde. Soziologen bezeichnen einen solchen Vorgang als "soziale Schließung".
Generell gilt: In der gegenwärtigen Druck- wie Konkurrenzsituation grenzen sich die verschiedenen Elternmilieus schroff voneinander ab, verhindern, dass ihre Kinder mit dem Nachwuchs der jeweils unter ihnen verorteten Schichten in Kontakt geraten. Das klassische Bildungsbürgertum achtet neuerdings mehr als in den vergangenen drei Jahrzehnten darauf, dass ihre Sprösslinge nicht mit den "Parvenüs" aus dem Mittelstand ihre Freizeit verbringen. Und die kleinbürgerliche Mitte unterbindet entschlossen Begegnungen mit Familien aus der "Underclass". Denn dort wittert sie kulturelle Verwahrlosung, haltlosen Konsumismus, Unheil stiftende Disziplinlosigkeiten.
Die Bundesministerin Ursula von der Leyen weiß schon, dass sie - Proteste der Sozialverbände hin, Kritik der parlamentarischen Opposition her - mit dem Zuspruch der gesellschaftlichen Mitte rechnen kann.