
Weltwirtschaft in der Krise Endspiel um den globalen Wohlstand


Börse in New York: Teure Vermögenswerte
Foto: Seth Wenig / APEs könne sein, dass das Endgame begonnen habe, sinnierte dieser Tage Claudio Borio. Über Jahrzehnte habe sich eine Problemlage aufgebaut, die sich nun zu entladen drohe in einem großen weltwirtschaftlichen Schlamassel – einem Endspiel um den globalen Wohlstand.
Borio ist kein abseitiger Untergangsprophet, sondern Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), dem Zentralinstitut der globalen Notenbanken. Die düsteren Gedanken äußerste er in der abgelaufenen Woche bei einem Vortrag am renommierten Cato-Institut , einem Washingtoner Thinktank. »In gewisser Weise«, sagte Borio, bekomme man nun die Quittung für den ökonomischen Kurs der vergangenen 40 Jahre. Es sei immer klar gewesen, dass der bisherige Entwicklungspfad in einer ausgewachsenen Inflation enden könne. »Vielleicht haben uns nun die Pandemie und der Krieg« diesem Endspiel nähergebracht.
Die ganz großen wirtschaftlichen Krisenszenarien liegen inzwischen auf dem Tisch.
In den kommenden Tagen treffen sich in der US-Hauptstadt die Spitzen der Weltwirtschaft zur Herbsttagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Ab Montag sitzen allerlei Experten und Banker zusammen, ab Mittwoch dann auch Finanzminister und Notenbankchefs. Im Kern geht es darum, wie man das Schlimmste abwenden kann – ein »Endgame«, in dem nicht nur die Inflation verrückt spielt und die Börsen crashen, sondern auch Hungerkrisen, soziale Unruhen und weitere internationale Konflikte die Welt erschüttern.
Besonders hart trifft es die Ärmsten
IWF-Chefin Kristalina Georgieva versucht schon mal, das Publikum auf eine schwierige Phase vorzubereiten. Ihrer Einschätzung zufolge droht zunächst mal ein internationaler Wirtschaftseinbruch. Länder, die zusammen ein Drittel zur globalen Wirtschaftsleistung beitragen, würden in die Rezession rutschen. Und selbst, wo die Wirtschaftsleistung weiter zunehme, »wird es sich wie eine Rezession anfühlen, weil die Realeinkommen schrumpfen und die Preise steigen«, so Georgieva .
Auch Deutschland dürfte zu den Ländern gehören, denen der IWF einen Rückgang der Wirtschaftsleistung vorhersagt. (Achten Sie Dienstag auf die neuen Prognosen aus Washington.)
Besonders hart hat es bereits ärmere Länder getroffen. Seit Monaten wütet eine internationale Schuldenkrise. Ein Viertel der Schwellenländer und mehr als 60 Prozent der Entwicklungsländer sind nach IWF-Zählung entweder zahlungsunfähig oder akut von der Pleite bedroht. Nahrungsmittel sind teuer; Energie ist teils unerschwinglich, auch weil Deutschland und das übrige Westeuropa die Märkte für Flüssiggas (LNG) leerkaufen.
»Seit drei Jahren erleben wir Schock auf Schock auf Schock. Erst Covid. Dann Russlands Invasion in der Ukraine. Außerdem Klimadesaster auf allen Kontinenten«, sagt Georgieva. Mit den Folgen klarzukommen sei »wegen der geopolitischen Fragmentierung« umso schwieriger. Weil der Systemgegensatz zwischen dem Westen und autoritären Staaten wie China, Russland oder Saudi-Arabien immer stärker zutage tritt, gibt es kaum noch Ansatzpunkte, zu gemeinsamen Lösungen zu finden – anders als während der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009.
Das ist alles schlimm genug – Krieg, Inflation und die zugespitzte Konfrontation in der internationalen Politik. Aber ein »Endgame«, wie Claudio Borio formuliert? Ist das nicht reichlich übertrieben?
Ein gigantischer Anstieg der Verschuldung
Man kann es auch so sehen: Seit vier Jahrzehnten war die Weltwirtschaft geprägt von einem trendmäßigen Rückgang der Zinsen. Nachdem in den frühen Achtzigerjahren die Inflation in den USA besiegt wurde, sanken die Sätze immer weiter. Der Trend beschleunigte sich in den Neunzigerjahren, als auch in Europa und anderswo das Primat der Preisstabilität zum Standard wurde. Eigentlich eine gute Sache.
Aber die Kehrseite dieser Entwicklung ist ein gigantischer Anstieg der Verschuldung: Staaten, Unternehmen und Privatbürger haben im globalen Schnitt immer höhere Verbindlichkeiten aufgebaut. Derzeit liegt der Wert der Bruttoschulden bei rund dem 3,5-Fachen der weltweiten Wirtschaftsleistung, wie das Institute for International Finance berechnet hat . Weil der Schuldendienst immer billiger wurde – und weil bis vor Kurzem der Glaube vorherrschte, daran werde sich langfristig nichts ändern –, schien eine immer höhere Verschuldung unproblematisch.
Der Anstieg war besonders rasch bis zur Finanzkrise von 2008. Aber auch danach legten die Verbindlichkeiten noch weiter zu . Nun kommt die Quittung. Deutschland ist in dieser Beziehung ein Sonderfall: Die Verschuldung ist insgesamt moderat. Aber das hilft einer offenen Volkswirtschaft nur bedingt, wenn ihre Partner in Europa und rund um den Globus vor ganz anderen Problemen stehen.
Sollte Claudio Borio mit seiner Ahnung von einem »Endgame« recht behalten, dann bedeutet das nichts anderes, als dass nun eine lang anhaltende Rückführung der Übertreibungen der hinter uns liegenden 40-jährigen Epoche der immer billigeren Kredite bevorsteht. Praktisch alle Vermögenswerte sind im historischen Vergleich immer noch sehr hoch bewertet . Immobilien, Aktien, Anleihen, nicht börsennotierte Firmen, edle Weine, Song-Copyrights – die Liste der aufgeblähten Vermögenspreise ist endlos. Getrieben von billigem Geld stiegen die Bewertungen immer weiter. Und auch wenn sie inzwischen zurückgehen, so scheint doch noch reichlich Luft in dieser Mega-Blase zu sein.
Die große Umkehr
Wie einschneidend die Veränderungen sind, zeigt sich bei der Inflation. Lange haben Politik und Finanzmärkte darauf gewettet, dass die globalisierte Ökonomie schier endlose Produktionsmöglichkeiten bereithält. Ein flexibles weltweites Angebot an Gütern und international mobilen Arbeitskräften würde Preiserhöhungen auf breiter Front quasi unmöglich machen. Entsprechend schien es risikolos, die Menge an Geld und Kredit auszuweiten und damit die Nachfrage anzuheizen.
Doch nun zeigt sich, dass die Wirtschaft an harte Grenzen stößt: Die Coronakrise, die insbesondere in China noch akut andauert, hat viele grenzüberschreitende Lieferketten zum Zerreißen gebracht. Sie wirkt als Verstärker der schon zuvor sichtbaren wirtschaftspolitischen Bruchlinien, insbesondere zwischen demokratischen und autoritären Systemen. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Deutschlands und Europas Energieversorgung grundsätzlich infrage gestellt – und weltweit die Preise in die Höhe katapultiert. Parallel dazu ist der positive demografische Trend der vergangenen Jahrzehnte an ein Ende gelangt: Die Zahl der Menschen im beschäftigungsfähigen Alter schrumpft in immer mehr Ländern, inzwischen auch in China, wodurch die volkswirtschaftlichen Produktivkräfte langfristig geschwächt werden. Wir erleben eine »große demografische Umkehr«, wie sie die Ökonomen Charles Goodhart und Manoj Pradhan in ihrem Buch »The Great Demographic Reversal« vorgezeichnet haben.
Globalisierung, Energie, Demografie – eine multidimensionale Trendwende stellt die Weltwirtschaft vor neue Realitäten. Die Produktionsmöglichkeiten wachsen nicht mehr wie gewohnt. Es gibt kein unbeschränktes Angebot mehr. Nun beginnt eine Ära echter Knappheiten.
Auf diese begrenzten Möglichkeiten stößt derzeit eine staatlich aufgepumpte Nachfrage. Die Konjunkturprogramme der Staaten und die billionenschweren Stützungsmaßnahmen der Notenbanken während der Coronakrise summieren sich zu einem Mega-Konjunkturprogramm, das sich jetzt erst mit Zeitverzug vollständig auswirkt. Weniger Angebot, mehr Nachfrage – kein Wunder, dass die Inflation so stark gestiegen ist.
Vor dem Hardcore-Szenario
Die Notenbanken reagieren, spät, aber immerhin, und treten kräftig auf die Bremse. Mit wenigen Ausnahmen sind sie rund um den Globus dabei, rasch die Zinsen nach oben zu schleusen. Die US-amerikanische Federal Reserve, die Europäische Zentralbank, die Bank of England und viele andere haben geschworen, erst mit den Zinserhöhungen nachzulassen, wenn sie sehen, dass sich die Inflation tatsächlich abschwächt. Auch auf die Gefahr hin, zu heftig zu Werke zu gehen und eine tiefe weltweite Rezession auszulösen: Der IWF ermuntert sie ausdrücklich dazu.
Wie weit müssen die Zinsen steigen? Die Erfahrung der Hochinflationsphase der Siebzigerjahre legt nahe, dass die Notenbanken die Leitzinsen längere Zeit über der Inflationsrate halten müssen, um die Inflationsdynamik einbremsen können. Solange der »Realzins« (Leitzins minus Inflationsrate) negativ ist, treibt er die Wirtschaft eher weiter an. Und wenn sich die Inflationspsychologie erst einmal verselbstständigt hat, bedarf es umso länger anhaltender restriktiver Notenbankmaßnahmen.
Derzeit ist der Realzins immer noch negativ, sogar stark negativ. Wenn man die Kerninflation (ohne Energie und Nahrungsmittel) als Maßstab nimmt, liegen die Leitzinsen abzüglich der Preissteigerungsrate beiderseits des Atlantiks immer noch bei minus drei Prozent. Es ist daher nicht abwegig anzunehmen, dass die Leitzinsen auf fünf bis sieben Prozent angehoben werden müssen, um die gewünschte Bremswirkung zu erzielen. Sollte der Preisauftrieb sich weiter beschleunigen, müsste der Zins demnach noch weiter steigen. Die längerfristigen Zinsen, die die Staaten für Kredite oder Immobilienkäufer für ihre Finanzierungen bezahlen müssen, würden dann noch etwas über den Leitzinsen liegen. Je fragiler eine Volkswirtschaft ist, desto höher müssten die Zinsen steigen. Ein Hardcore-Szenario. Halten wir das aus?
England als Menetekel
Die Vermutung liegt nahe, dass eine solche Vollbremsung zu massiven Verwerfungen an den Finanzmärkten führen wird. Aufgeblähte Bewertungen könnten unter diesen Bedingungen sehr schnell in sich zusammenfallen. Das »Endgame« würde in einem gigantischen Finanzkrach enden, inklusive Staatsschuldenkrisen und dem Zusammenbruch von Finanzinstituten.
Bei der Herbsttagung von IWF und Weltbank muss es deshalb darum gehen, einen solchen ungeordneten globalen Crash zu verhindern und einen allmählichen, geordneten Rückbau der Schuldenarchitektur zu ermöglichen – mit Schuldenschnitten für ärmere Länder, vorsichtiger Finanzpolitik in reicheren Ländern und Stützungsmaßnahmen gegen Panikattacken an den Börsen.
Wie schwierig ist es, diese Balance zu halten, zeigt sich derzeit in Großbritannien, das als erste etablierte Volkswirtschaft erlebt, mit welcher Wucht die neue Ära des knappen Geldes politische Fehler bestrafen kann. Auslöser war die Ankündigung der neuen britischen Regierung, gleichzeitig die Ausgaben zu erhöhen und die Steuern zu senken – und somit die ohnehin hohen Staatsschulden noch weiter zu steigern.
Das Ergebnis war ein Vertrauensverlust. Der Kurs des Pfundes fiel zeitweise drastisch. Britische Staatsanleihen waren zeitweise unverkäuflich, sodass sich die Bank of England gezwungen sah, an den Finanzmärkten zu intervenieren, um den Zusammenbruch von Pensionskassen zu verhindern. Dabei muss die Londoner Notenbank eigentlich die galoppierende Inflation bremsen. Nun wurde sie faktisch von der Regierung dazu gezwungen, das Gegenteil zu tun. Wohlgemerkt: Dies ist Großbritannien, einstige Weltmacht und Emittentin der vormaligen Weltwährung Pfund Sterling.
Das »Endgame« hat gerade erst begonnen. Wie es ausgeht, ist offen.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche
Washington – Krisenrat – Beginn der Jahrestagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds – mit Ansprachen von IWF-Chefin Georgieva und Weltbank-Chef Malpass.
Stockholm – Wissen, nicht Macht – Bekanntgabe der Nobelpreisträger in Wirtschaftswissenschaften.