Stromversorgung Industrie misstraut Merkels Energiewende

Die Strompreise steigen, der Netzausbau lahmt, Firmen fürchten um den Standort Deutschland: Weil die Probleme der Energiewende sich verschlimmern, stellt die Industrie das Projekt unter verschärfte Beobachtung - und nutzt das miese Projektmanagement der Regierung für ihre Lobbyarbeit.
Strommasten: Stotterstart für die Energiewende

Strommasten: Stotterstart für die Energiewende

Foto: dapd

Hamburg - Die Energiewende läuft alles andere als rund. Seit das Bundeskabinett am 6. Juni 2011, vor fast genau einem Jahr also, den Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022 beschlossen hat, verschärfen sich die Probleme bei der Umstellung der deutschen Energieversorgung immer weiter. Fehlsteuerungen der vergangenen Jahre sind noch immer nicht behoben: Während jährlich noch immer weit mehr Solaranlagen ans Netz gehen als geplant, geht der Ausbau der Stromnetze nur schleppend voran.

Dadurch operieren die Netze an der Grenze der Belastbarkeit. Gleichzeitig steigt die Erneuerbare-Energien-Umlage rasant. Im September könnte sie von 3,6 auf mehr als 5 Cent steigen, eine Durchschnittsfamilie würde dann jährlich 50 Euro mehr für Strom zahlen. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger, denen die Stromzufuhr abgeklemmt wird, steigt. In der Koalition werden bereits Modelle des sozialen Ausgleichs für die steigenden Energiepreise diskutiert.

So produziert das Missmanagement beim Umbau der deutschen Stromversorgung immer neue Probleme. Die Bundesregierung hat mit dem Atomausstieg einen großen Schalter umgelegt, doch sie hat keinen Masterplan, wie sie mit den Folgen dieser Entscheidung fertig wird. Oder sie weiß im Prinzip, was zu tun ist (rascher Netzausbau, Gebäudesanierung), es fehlt aber am politischen Willen, die entsprechenden Maßnahmen schnell und konsequent umzusetzen. Experten sprechen schon von einem verlorenen Jahr für die Energiewende. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat das Mega-Projekt erst kürzlich zur Chefsache erklärt.

Industrievertretern reicht das nicht. Sie starten inzwischen ihre eigenen Initiativen, um den Fortschritt der Energiewende enger zu überwachen - und um öffentlichen Druck zu erzeugen. Das schlechte Projektmanagement der Bundesregierung bietet den Lobbyisten eine ideale Plattform.

Misstrauen gegenüber Regierung wächst

Am Montag wurden gleich zwei Initiativen gestartet: Die halbstaatliche Deutsche Energie-Agentur (Dena), die gemeinhin eher die Ansichten der Industrie teilt, veröffentlicht ab sofort vierteljährlich den sogenannten Deutschen Energiewende-Index (DEX) , eine Umfrage unter Hunderten Vorständen, Geschäftsführern und Politikern, die einen Überblick geben soll, wie positiv oder negativ verschiedene Branchen die Fortschritte der Energiewende einschätzen.

Gleichzeitig startet der Industrieverband BDI eine sogenannte Kompetenzinitiative. Diese soll mehrere Studien umfassen und zeigen, inwieweit die vorgegebenen energiepolitischen Ziele erreicht werden. Außerdem sollen Stresstests für die Elektrizitätsversorgung entwickelt werden; diese sollen es der Politik ermöglichen, "bei schlechten Ergebnissen schnell gegenzusteuern", sagt BDI-Chef Hans-Peter Keitel. Erste Studieninhalte sollen im September vorliegen.

Offiziell will der BDI seine Initiative als "konstruktive Hilfestellung" verstanden haben. Gleichzeitig zeigen die Vorstöße der Wissenschaftler und Industrievertreter jedoch auch, wie groß das Misstrauen gegenüber der Regierung inzwischen ist. Entsprechend fordert Keitel nun ein "professionelles Management und ein intensives Monitoring" der Energiewende.

Dena-Chef Stephan Kohler sagt: "Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien besser mit dem Ausbau der Stromnetze koordinieren und letzteren beschleunigen. Zudem müssen Marktbedingungen geschaffen werden, die den Bau neuer Gaskraftwerke und Speicher wirtschaftlich rentabel machen."

Unterschiedliche Wahrnehmung von Wirtschaft und Politik

Der Energiewende-Index der Dena ist besonders in einer Hinsicht bemerkenswert. Er zeigt, wie stark die Wahrnehmung von Politik und Wirtschaft in Bezug auf die Energiewende auseinandergehen. Während in der Wirtschaft die Skepsis überwiegt, beurteilt die Politik die Energiewende wesentlich positiver. Insgesamt erreicht der DEX im zweiten Quartal 2012 einen neutralen Wert von 100,8 auf einer Skala von 0 (negativ) bis 200 (positiv).

Zahlreiche Unternehmen sehen demnach die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland durch die Energiewende gefährdet. Wirtschaftsvertreter äußern deutliche Bedenken hinsichtlich der rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen, der Wirtschaftlichkeit der Energieversorgung und der Versorgungssicherheit.

So hat der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft am Montag eine neue Umfrage veröffentlicht, laut der die Zahl der Kurzunterbrechungen in der Stromversorgung seit dem Atomausstieg deutlich gestiegen ist. Gemeint sind damit Spannungsabfälle im Millisekundenbereich (genauere Hintergründe: hier), die für gewisse produzierende Unternehmen ein Risiko darstellen. Der Verband sieht die "Stromversorgungsqualität deshalb unter hohem Druck".

Hinter anderen Kritikpunkten dagegen stehen vor allem Industrieinteressen. So kritisiert die Industrie die steigenden Strompreise vor allem in der Hoffnung auf weitere Ausnahmen, die Unternehmen teilweise oder ganz davon befreien, sich an den Kosten der Energiewende zu beteiligen. Nach Ansicht der Bundesnetzagentur haben diese Vergünstigungen - insgesamt werden sie auf mehr als acht Milliarden Euro geschätzt - aber schon jetzt eine kritische Grenze erreicht.

Vor allem auf gewerbliche Kleinverbraucher und private Haushalte werden immer mehr Kosten der Energiewende abgewälzt - und die haben, anders als die Industrie, keine schlagkräftige Lobby, die mit allerlei Studien und Monitoring-Initiativen den öffentlichen Druck erhöhen können.

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