Studie zu Erdgas-Ausstieg Turbo-Energiewende statt Gas aus Russland

Moskau kündigt höhere Energiepreise an, was auch deutsche Verbraucher spüren dürften. Könnte die Bundesrepublik in absehbarerer Zeit auf russisches Erdgas verzichten? Ja, sagt eine Studie - nennt aber auch Nachteile.
Gasverdichterstation in Sayda (Sachsen): Wie schafft Deutschland mehr Unabhängigkeit vom russischen Erdgas?

Gasverdichterstation in Sayda (Sachsen): Wie schafft Deutschland mehr Unabhängigkeit vom russischen Erdgas?

Foto: MATTHIAS RIETSCHEL/ ASSOCIATED PRESS

Hamburg - Die Reaktion aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten. Am Dienstag einigten sich die 28 EU-Staaten auf umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Russland - am Mittwoch folgte eine ebenso unheilvolle wie vieldeutige Warnung aus dem russischen Außenministerium: Die Sanktionen würden "zwangsläufig einen Anstieg der Preise auf dem europäischen Energiemarkt zur Folge haben".

Deutschland ist in hohem Maße abhängig von Energie aus Russland, insbesondere von russischem Gas: Von den rund 900 Terawattstunden (TWh) an Erdgas, die jährlich in der Bundesrepublik verbraucht werden, werden etwas mehr als 800 TWh importiert, davon 315 TWh aus Russland - ein Anteil von knapp 39 Prozent.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen bekommt daher eine Studie neue Brisanz, die bei ihrem Erscheinen im Juni kaum beachtet wurde - vielleicht auch, weil sie am Tag des WM-Eröffnungsspiels veröffentlicht wurde. Darin untersuchen die Experten des Fraunhoher-Instituts für Windenergie und Energiesysteme (IWES) im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion , wie und bis wann sich Deutschland komplett unabhängig machen könnte von Gasimporten aus Russland.

300 Milliarden Euro Nettoinvestitionen bis 2028

Derartige Überlegungen führen unweigerlich zu einem Dilemma: Denn am schnellsten könnte Erdgas durch den Einsatz anderer fossiler Energieträger ersetzt werden, allen voran Braunkohle. Nach etwas mehr als zehn Jahren, so schätzen Experten, würden russische Gasimporte obsolet. Doch Deutschland hat die Energiewende unter anderem auch ausgerufen, um die Klimakiller Öl, Gas und Kohle durch Erneuerbare Energien zu decken. Dieses ambitionierte, auf Jahrzehnte ausgelegte Projekt würde konterkariert.

Die IWES-Experten untersuchten daher, wie Deutschland das Ziel durch eine Beschleunigung der Energiewende erreichen könnte - und was dafür in Kauf genommen werden müsste. Sie kommen zu einem erstaunlichen Ergebnis: Würde die Energiewende nach den derzeitigen Plänen der Bundesregierung umgesetzt, wäre Deutschland erst im Jahr 2050 unabhängig vom russischen Gas. Bei einer forcierten Energiewende könnte es bereits im Jahr 2030 soweit sein.

Die Forscher verschweigen nicht die Kosten einer solchen Anstrengung: Zwar betonen sie, dass eine forcierte Energiewende sich auf lange Sicht auch volkswirtschaftlich lohnt - in den ersten Jahren würde sie aber erheblich mehr Geld kosten als einsparen. Insgesamt müssten bis zum Jahr 2028 netto 300 Milliarden Euro investiert werden. Ab diesem Jahr würden die Einsparungen die Investitionen übersteigen, und bis zum Jahr 2050 hätte sich das Projekt mehr als rentiert. Und selbstverständlich hatten die Forscher noch nicht den Effekt möglicher höherer Erdgas-Preise als Druckmittel in Konflikten berücksichtigt.

Die Autoren der Studie thematisieren auch andere mitunter unerfreuliche Konsequenzen - etwa die Notwendigkeit, großflächig Mais anzubauen, um Biogas zu erzeugen.

So könnte der ökologische Weg zur Unabhängigkeit von russischem Erdgas im Einzelnen aussehen:


Erdgas-Verbrauch senken: Gebäudesanierung und Energieeffizienz

Installation einer Wärmedämmung in Straubing: Riesiges Potenzial

Installation einer Wärmedämmung in Straubing: Riesiges Potenzial

Foto: Armin Weigel/ picture alliance / dpa

71 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases dient dazu, Wärme zu erzeugen - dementsprechend sehen die IWES-Forscher in diesem Bereich das mit Abstand größte Potenzial, den Erdgas-Bedarf zu senken: Mehr als die Hälfte der Importe aus Russland könnte bereits im Jahr 2025 obsolet werden.

Dazu müssten allerdings wesentlich mehr Gebäude wesentlich rascher energetisch saniert werden als bislang: Jedes Jahr müssten drei Prozent des Bestands mit Wärmedämmung versehen und moderner Heiztechnik ausgestatten werden - derzeit liegt diese Quote bei 0,8 Prozent. Das Tempo der Gebäudesanierung müsste also nahezu vervierfacht werden. Möglich ist das nur, wenn es entsprechende Förderung gibt - etwa durch direkte Förderprogramme oder steuerliche Absetzbarkeit.

Einsparpotenzial: 160 TWh bis zum Jahr 2025 / 260 TWh bis zum Jahr 2037


Verbrauch im Wärmesektor senken: Ersatz durch Wärmepumpen

Schema einer Wärmepumpen-Installation

Schema einer Wärmepumpen-Installation

Foto: A009 Gag Immobilien Ag/ dpa

Nach der Einsparung durch Dämmung und Sanierung sehen die IWES-Forscher hier das größte Potenzial: Wärmepumpen nutzen den Temperaturunterschied von der Oberfläche zur natürlichen Erdwärme aus. Dafür benötigen sie allerdings Strom. Wegen ihrer hohen Effizienz lohnen sich Wärmepumpen bereits beim jetzigen Anteil erneuerbarer Energien an der Stromproduktion, dies gilt umso mehr, je weiter der Anteil von Ökostrom zunimmt.

Einsparpotenzial: 75 TWh bis zum Jahr 2025 / 150 TWh bis zum Jahr 2050


Verbrauch im Wärmesektor senken: Ersatz durch Biomasse

Holz-Pellets

Holz-Pellets

Foto: Bernd Weißbrod/ picture-alliance/ dpa

Mit Holz statt Gas kann für Raumwärme und Warmwasser gesorgt werden, entweder durch Pelletheizungen oder den guten alten Holzöfen im Haushaltsbereich oder durch Biomasse-Heizkraftwerke für die Fernwärmeversorgung. Die IWES-Forscher sehen hier allerdings nur einen begrenzten Zuwachs als sinnvoll an - schließlich sollen nur so viele Bäume gefällt werden wie nachwachsen.

Einsparpotenzial: 15 TWh bis zum Jahr 2025 / 35 TWh bis zum Jahr 2050


Verbrauch im Wärmesektor senken: Ersatz durch Power-to-Heat

Hochseewindpark Bard Offshore 1 nordwestlich von Borkum (Niedersachsen)

Hochseewindpark Bard Offshore 1 nordwestlich von Borkum (Niedersachsen)

Foto: DPA

Aus Strom Wärme erzeugen - das ist ökologisch nur sinnvoll bei möglichst hohem Ökostrom-Anteil. Bereits in rund zehn Jahren könnte die Erdgas-Einsparung durch diese Technologie laut der IWES-Studie dennoch bereits beträchtlich sein.

Einsparpotenzial: 17 TWh bis zum Jahr 2025 / 67 TWh langfristig


Verbrauch im Wärmesektor senken: Ersatz durch Solarthermie

Solarthermie-Anlage in Ilmenau

Solarthermie-Anlage in Ilmenau

Foto: Michael Reichel/ picture alliance / dpa

Mit Solarpanelen heizen und Wasser wärmen - das bringt nur einen geringen Effekt, stellen die IWES-Forscher fest. Das liegt auch daran, dass auf dafür geeigneten Flächen auch Photovoltaik-Anlagen installiert werden können, um Strom zu erzeugen. Daher veranschlagt die Studie das Einsparpotenzial durch Solarthermie deutlich niedriger als andere Studien.

Einsparpotenzial: 1 TWh bis zum Jahr 2025 / 6 TWh bis zum Jahr 2050


Erdgas durch anderes Gas ersetzen: Biomethan

Mais-Lieferung an Biogasanlage bei Apensen (Niedersachsen)

Mais-Lieferung an Biogasanlage bei Apensen (Niedersachsen)

Foto: Ingo Wagner/ picture alliance / dpa

Die IWES-Forschung erinnert an die Ausbaupläne der Bundesregierung für Biogas aus dem Jahr 2007. Das Ziel lag damals bei einer Energiemenge von 108 TWh im Jahr 2030. Allerdings hinkt die tatsächliche Entwicklung den Plänen weit hinterher. Würde das Ausbauziel von nun an wieder engagiert verfolgt, könnte Biogas laut der IWES-Studie mittelfristig zumindest den Rückgang der deutschen Erdgasförderung kompensieren.

Offen schreiben die Autoren der Studie: Die vermehrte Nutzung von Biogas könne "ohne die Nutzung von Energiepflanzen nicht erzielt werden". Im Klartext: Auf deutschen Äckern müsste Mais oder Raps angebaut werden, um dann zu Biomethan umgewandelt zu werden. Aus Sicht der IWES-Forscher wäre dies aber möglich, ohne dass Regionen überdüngt würden oder der Mais-Anteil auf den Äckern zu stark steigt.


Zukunftsmusik: Ersatz von Gas-Kraftwerken, Power-to-Gas etcetera

Power-to-Gas-Anlage von E.on bei Pritzwalk (Brandenburg)

Power-to-Gas-Anlage von E.on bei Pritzwalk (Brandenburg)

Foto: Nestor Bachmann/ picture alliance / dpa

Für die Zeit nach 2030 - also wenn bereits kein russisches Gas mehr importiert werden müsste, aber der Ersatz von Erdgas ökologisch sinnvoll bleibt - sehen die IWES-Forscher ein großes Potenzial in zwei Technologien:

Die bestehenden Gas-Kraftwerke würden erst ab 2032 schrittweise durch Ökostrom-Kraftwerke ersetzt werden können - denn zuvor sollten den Forschern zufolge erst einmal die existierenden Kohlekraftwerke abgeschaltet werden.

Die elektrochemische Erzeugung von Gas durch Strom - das sogenannte "Power-to-Gas"-Verfahren ist noch relativ jung, bislang gibt es in Deutschland erst mehrere Pilotanlagen. Langfristig - konkret ab dem Jahr 2030 - sehen die IWES-Forscher darin aber großes Potenzial, weil die Technologie bei dem dann hohen Ökostrom-Anteil auch tatsächlich fossile Energie einspart. Vor allem aber lässt sie sich als dringend benötigte Speichertechnologie für Ökostrom aus Wind und Sonne nutzen.


Nicht sinnvoll: Fracking, LNG

Anti-Fracking-Demonstration in Kassel (2012)

Anti-Fracking-Demonstration in Kassel (2012)

Foto: Uwe Zucchi/ dpa

Fracking - also die Erdgasförderung in nicht-konventionellen Vorkommen durch das Einpressen von Chemikalien - ist, so die IWES-Studie, "aufgrund ökonomischer Probleme und vor allem ökologischer Bedenken öffentlich umstritten". In ihrer Berechnung spielt es daher keine Rolle.

Etwas widersprüchlich äußern sich die Forscher zur Nutzung von verflüssigtem Erdgas - Abkürzung: LNG. Dieses wird ähnlich wie Öl per Tanker über die Meere transportiert. So könnte Deutschland etwa vom Fracking-Boom in den USA profitieren. Einerseits schreiben die IWES-Autoren, "derzeit verfügbare freie Kapazitäten an bisher schon vorhandenen LNG-Terminals und durch weiteren Ausbau der Infrastruktur zukünftig verfügbare Kapazitäten in Westeuropa" sollten berücksichtigt werden. Selbst bauen sollte Deutschland aber keine LNG-Terminals: Diese erschienen "nicht als notwendig und zielführend im Rahmen einer effizienten und ernstgemeinten Energiewende".

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