Statistiken der EU-Kommission Bei Oettinger gehen Wirtschaftslobbyisten ein und aus

EU-Kommissar Günther Oettinger
Foto: Stephanie Lecocq/ dpaJean-Claude Juncker wollte vieles anders machen, als er den Chefposten der EU-Kommission übernahm - auch was den Umgang mit Lobbyisten betrifft. Zwar seien solche Kontakte "ein natürlicher und wichtiger Teil" der Arbeit der Kommissionsmitglieder, die jedoch "für eine gewisse Ausgewogenheit und Repräsentativität der Interessengruppen" sorgen sollen. So zumindest steht es in den Arbeitsmethoden , die Juncker seinen Mitarbeitern im November 2014 verordnet hat.
Und eines muss man Juncker lassen: Die Transparenz gibt es. Kommissare und deren Kabinette müssen ihre Treffen mit Lobbyisten veröffentlichen.
Mit der Ausgeglichenheit hingegen ist es weniger weit her, wie Untersuchungen von Lobbycontrol und IntegrityWatch und ALTER-EU zeigen, die dem SPIEGEL vorliegen. Die weitaus größte Aufmerksamkeit der EU-Kommission erhalten demnach weiterhin Vertreter von Firmen und Konzernen, Kanzleien und Handelsverbänden. Kontakte zu Organisationen der Zivilgesellschaft - etwa NGOs, Gewerkschaften oder Thinktanks - sind insgesamt deutlich seltener.
"Die Politik sollte primär den Bürgerinnen und Bürgern dienen, nicht der Wirtschaft", sagt Nina Katzemich, EU-Expertin bei Lobbycontrol. "Unsere Auswertung ist ein weiteres Indiz dafür, dass die EU diesem Anspruch nicht gerecht wird. Das muss sich dringend ändern."
Die Daten liefern einen interessanten Einblick, wie es in Brüssel - nach Washington die Welthauptstadt des Lobbyismus - zugeht, wer Zugang zu den Mächtigen hat und wer eher nicht. Unter den Kommissaren, die am liebsten der Wirtschaft ihr Ohr leihen, ist die polnische Binnenmarkt- und Industriekommissarin Elzbieta Bienkowska die Spitzenreiterin: 87 Prozent ihrer Treffen fanden mit Wirtschaftsvertretern statt.
Oettingers 412 Treffen mit Lobbyisten
Knapp dahinter folgt Haushaltskommissar Günther Oettinger mit 83 Prozent (siehe Tabelle). Allerdings liegt er bei der Gesamtzahl der Treffen einsam an der Spitze: 412 Mal traf sich der CDU-Politiker zwischen Dezember 2014 und April 2017 mit Lobbyisten. Bei Bienkowska waren es nur 91 Treffen.
Eine Ursache für den hohen Anteil von Wirtschaftsvertretern liegt sicher an den Portfolios Oettingers, der bis Ende 2016 Kommissar für Digitale Wirtschaft war und dann ins Haushaltsressort wechselte. Dass es aber in wirtschaftsnahen Ressorts nicht zwingend so sein muss, macht beispielsweise Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis vor: Nur 49 Prozent der Treffen des Litauers entfielen auf Wirtschaftslobbyisten, 44 Prozent auf Nichtregierungsorganisationen und sieben Prozent auf Gewerkschaften.
Bei Justiz- und Verbraucherkommissarin Vera Jourová lag der Anteil von Treffen mit Wirtschaftslobbyisten noch niedriger (42 Prozent), bei Arbeits- und Sozialkommissarin Marianne Thyssen betrug er sogar nur 34 Prozent. "Dies zeigt, dass es im Ermessen der Kommissare liegt, wie sie mit Lobbyvertretern umgehen und wem sie ihr Gehör schenken", sagen die Experten von Lobbycontrol.
"Jeder hat das Recht, sich mit Kommissaren zu treffen"
Oettinger selbst sieht in den Lobbykontakten kein Problem, wie er in der Vergangenheit immer wieder betont hat. "Wenn ein Abgeordneter oder ein Bürger oder ein Vertreter von Wirtschaft und Gesellschaft, ein Betriebsrat oder ein Gewerkschaftsmitglied einen Kommissar sprechen will, dann sollte er dies tun", sagte er beispielsweise bei einer Anhörung im Europaparlament zu Beginn des Jahres.
Die Kommission verweist zudem darauf, dass sie ihren Mitgliedern keine Vorgaben macht, welche Organisationen oder Gesprächspartner sie in welchem Umfang treffen. "Jeder hat das Recht, sich mit Kommissaren, ihren Kabinettsmitgliedern und unseren Generaldirekten zu treffen, solange sie im Register eingetragen sind", sagt eine Kommissionssprecherin. Zudem sei der Eintrag in das Transparenzregister inzwischen de facto eine Voraussetzung für ein Treffen mit hochrangigen Mitgliedern der Kommission. Am 25. April 2017 gab es dort 11.225 Einträge, vor Annahme der neuen Regeln im November 2014 waren es lediglich 7076.
Auch wenn es bei der Ausgeglichenheit noch einiges zu tun gibt: In Sachen Offenheit hat die EU-Kommission eine Vorreiterrolle übernommen, wie auch die Aktivisten von Lobbycontrol betonen. "Die deutsche Bundesregierung bietet nicht annähernd so viel Transparenz."
Noch düsterer sieht es in Washington aus. Dort hat Präsident Donald Trump den von seinem Vorgänger Barack Obama eingeführten Usus, die Besucherliste des Weißen Hauses zu veröffentlichen, Mitte April rückgängig gemacht. Wen Trump oder seine Mitarbeiter dort treffen, ist jetzt wieder geheim.
Zusammengefasst: Die Treffen zwischen Mitgliedern der EU-Kommission und Lobbyisten sind öffentlich einsehbar. Die Daten zeigen, dass Wirtschaftsvertreter insgesamt bei Weitem öfter von den Brüsseler Beamten empfangen werden als Interessenvertreter von NGOs, Thinktanks oder Gewerkschaften - obwohl Kommissionspräsident Juncker schon Ende 2014 Ausgewogenheit vorgeschrieben hat.