Streit um EU-Standards Wirtschaftlich einig, sozial gespalten

Die EU-Kommission will Europa sozial angleichen - das gefällt nicht allen. Die Osteuropäer fürchten um ihre Wettbewerbsvorteile, die Arbeitgeber sehen steigende Kosten.
Zelte von Obdachlosen in Berlin

Zelte von Obdachlosen in Berlin

Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFP

Als Jean-Claude Juncker im Oktober 2014 vor dem Europaparlament seine Antrittsrede als Chef der neuen EU-Kommission hielt, wählte er drastische Worte. Er und sein Team seien die Kommission "der letzten Chance". Entweder man bringe die Bürger der Mitgliedstaaten wieder näher an Europa heran - oder man werde scheitern. Und Juncker machte klar, wie er das unter anderem erreichen wolle: Europa brauche ein "soziales Triple-A-Rating", sagte der Präsident in Anspielung auf die Bestnote, die Ratingagenturen für die Kreditwürdigkeit von Staaten verteilen.

Der rhetorische Vergleich war bewusst gewählt: Die EU, die in allererster Linie eine Wirtschaftsunion ist, solle künftig auch in der Sozialpolitik Maßstäbe setzen. Nach Jahren der Finanzkrise, in der alle Kraft darauf verwendet wurde, die Mitgliedstaaten auf wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und fiskalische Kreditwürdigkeit zu trimmen, müssten nun die sozialen Belange der EU-Bürger in den Vordergrund treten.

An diesem Dienstag will die Juncker-Kommission diesem Ziel mit zwei Maßnahmen einen kleinen Schritt näher kommen:

  • Eine Europäische Arbeitsmarktbehörde (ELA) wird gegründet. Sie kümmert sich in erster Linie um die Belange der EU-Bürger, die in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten. Viel Macht hat die Behörde allerdings nicht - sie soll vor allem die Zusammenarbeit der nationalen Arbeitsbehörden koordinieren. Und sie ist klein. Rund 50 Mitarbeiter der Kommission sollen ihr angehören, dazu soll jeder Mitgliedstaat ein bis zwei Mitarbeiter entsenden.
  • Auch Selbstständige und atypisch Beschäftigte sollen künftig überall in der EU Zugang zur Sozialversicherung erhalten, ob Rente, Kranken- oder Arbeitslosenversicherung. Allerdings legt die Kommission hier lediglich einen Vorschlag für eine Empfehlung vor - kein Mitgliedstaat ist also verpflichtet, sie umzusetzen.

Für sich genommen sind diese Maßnahmen wenig spektakulär. Interessant sind sie vor allem deshalb, weil die Kommission damit nun konkrete Vorschläge macht, wie umgesetzt werden kann, was im vergangenen November in Göteborg feierlich beschlossen wurde. Auf dem Sozialgipfel verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten die sogenannte Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR).

Der imposante Name ist allerdings etwas irreführend: Denn die ESSR enthält nicht wirklich Rechte - also Ansprüche, die EU-Bürger nun vor Gericht einklagen könnten. Bisher ist sie eine reine Absichtserklärung, bestehend aus 20 sozialpolitischen Grundsätzen , unterteilt in drei Kategorien:

  • Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang
  • Faire Arbeitsbedingungen
  • Sozialschutz und Inklusion

Doch selbst wenn diese Grundsätze vollständig umgesetzt würden - in Deutschland, Frankreich und anderen sozialen Marktwirtschaften West- und Mitteleuropas wäre davon kaum etwas zu spüren. Ganz anders sieht es hingegen in vielen EU-Staaten im Osten und Süden aus. Dort müssten die Sozialsysteme deshalb erheblich ausgebaut werden. Nur ein Beispiel: Im Osten und Süden gibt es kein Grundsicherungssystem, das wie Hartz IV zumindest das Existenzminimum garantiert - und das auch die ESSR vorsieht.

Daher birgt die Umsetzung der ESSR in konkrete Maßnahmen erhebliches Konfliktpotenzial - erstens zwischen den Wohlfahrtsstaaten im Norden und Westen der EU und den Osteuropäern, die um ihre Wettbewerbsvorteile bangen, die sie bislang durch niedrige Sozialstandards haben.

Und zweitens zwischen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden auf der einen Seite, die darauf pochen, dass die EU nicht für Sozialpolitik zuständig ist - und Gewerkschaften und Sozialverbänden auf der anderen Seite, die einheitliche EU-Regeln auf westeuropäischem Niveau wollen.

"Die Aufgabe der EU-Kommission ist es, konkrete Vorschläge zu machen und so die Richtung vorzugeben. Umsetzen müssen es dann die Mitgliedstaaten", sagt Wolfgang Strengmann-Kuhn, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Bundesregierung zu. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron klar für eine Sozialunion eintritt, sperrt sich Deutschland bislang gegen mehr Kompetenzen für Brüssel in der Sozialpolitik. "Es liegt jetzt vor allem auch an der Bundesregierung, das Signal zu senden: 'Wir machen Nägel mit Köpfen'", fordert Strengmann-Kuhn.

Ob aus der ESSR also mehr wird als eine wohlklingende Sammlung sozialpolitischer Absichtserklärungen, wird sich erst noch entscheiden - und zwar unter Zeitdruck: Bereits im Mai 2019 wird das Europaparlament neu gewählt, kurz darauf endet die Amtszeit der Kommission und ihres Chefs Juncker. Ihm bleibt also noch knapp mehr als ein Jahr, um sein Versprechen vom "sozialen Triple-A-Rating" einzulösen.


Zusammengefasst: Im vergangenen November haben die Staats- und Regierungschefs der EU die sogenannte Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) verabschiedet. An diesem Dienstag will die EU-Kommission dieses eher vage Versprechen erstmals mit konkreten Vorschlägen füllen. Doch die Umsetzung birgt erhebliches Konfliktpotenzial: zwischen Ost- und Westeuropäern und zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften.

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